"Durch das Nichtverstehen, Nichtdurchdringen von vier Wahrheiten, ihr Jünger, haben sowohl ich als auch ihr diese lange Zeit das Dasein durcheilt, das Dasein durchwandert. Von welchen vier Wahrheiten? Durch das Nichtverstehen, Nichtdurchdringen der edlen Wahrheit vom Leiden, von der Leidens-Entstehung, von der Leidens-Erlöschung und dem zur Leidens-Erlöschung führenden Pfad. Durch das Nichtverstehen, Nichtdurchdringen dieser vier Wahrheiten haben sowohl ich als auch ihr diese lange Zeit das Dasein durcheilt, das Dasein durchwandert."

 

 

Die 4 edlen (heilenden) Wahrheiten

Die „vier heilenden Wahrheiten“ bilden die Spitze einer Pyramide von fünf aufsteigenden Lehren des Erwachten. Als Vorbereitung für das Verständnis nennt der Erwachte zuerst vier Lehren, die erst aus dem Vordergründigen und Banalen herausheben. Die Kenntnis aller fünf Lehren und ihre praktische Befolgung führen den Menschen in diesem Leben und darüber hinaus zu immer weiteren Erleichterungen, Erhellungen und Erhöhungen.

 

Diese fünf Grade sind:

  1. Geben (danam) - Was ist der Mensch? Er ist nicht allein Körper - dieser ist nur ein Werkzeug, eine Hülle, ein Kleid. Der Mensch selbst, sein Wesen - das ist das, was will, fühlt, erlebt, denkt. Und dies Wollen besteht aus tausendfältigen Trieben, Tendenzen, Neigungen und Wünschen. Der Mensch ist ein Bedürftiger, er lebt im Mangel; er will haben, er muss haben: Besitz, Genuss, Macht, Anerkennung, Information, Hilfe. Unzählige Polypenarme des Verlangens greifen in die Welt, um das Begehrte heranzuholen, das Verabscheute wegzustoßen und Hindernisse zu beseitigen. Die gesamte Aktivität des Menschen wurzelt in der ungeheuren Dynamik seiner Psyche, die religiöse Seele, poetisch Herz, ethisch Charakter, philosophisch Wille genannt wird. Wenn alle Menschen immer nur haben wollten, dann herrschte immer Krieg, d.h. es würde allen alles genommen. Das Problem, wie Verlangtes erlangt wird, ist nur zu lösen durch Geben, Gewähren, Teilen, Opfern, bis zur Selbstaufgabe als höchste Gabe. Wer haben will, muss geben. Wer nehmen will, muss geben, nicht nur Geld, sondern vor allem Arbeitskraft, Zeit, Wissen und Aufmerksamkeit. Die Welt kann mir nur etwas geben, wenn ich ihr etwas gebe, wozu auch das Aufgeben gehört. Geben ist das erste Gebot der Existenz. Das ist die erste Lehre des Buddha.
  2. Tugend (silam) - Es gibt Wünsche, die ihrer Erfüllung selbst im Wege stehen. Das sind die maßlosen Triebe, wie etwa die Wünsche nach Rausch und Betäubung, die durch die Erfüllung zunehmen. Solche Wünsche krankhafter Hemmungslosigkeit machen nur immer unzufriedener und unglücklicher. Die Wünsche nach Glücksspiel, Alkohol, Drogen, pausenloser Reizüberflutung, wahlloser Sexualität, ständiger Magenüberladung sind solche Moloche, die viel verschlingen, aber den Menschen nicht weiterbringen. Die Psyche wird immer bedürftiger, der Körper immer unfähiger, die Erfüllung heranzuschaffen, und die Umwelt verschließt sich.  Da hilft die Tugend des Maßhaltens: Rücksicht auf sich zu nehmen, anstatt sich zu ruinieren. Was not tut, ist Selbsterziehung durch die Erkenntnis, dass das soziale Leben eine Symbiose ist und dass jeder von jedem abhängt. Die sozialen Gesetze sind die ethischen. Wer zu seinen Zielen kommen will, muss "moralisch" handeln. Was die Griechen ethos, die Römer mores, die Inder sila nennen, heißt übereinstimmend: Gut ist die Gewohnheit, die sich angewöhnt, weiter zu blilcken, die sozialen Folgen zu sehen und die untrennbare Einheit zu berücksichtigen. Es ist die uralte goldene Regel: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Dazu gehört auch, untugendhaftes Verhalten anderer nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen. Der Teufelskreis der Eskalation kann nur aufgebrochen werden, wenn man Ertragen und Verzeihen lernt. Das ist die zweite Lehre des Buddha.
  3. Fortexistenz (sagga) - Je mehr der Mensch auf seine Antriebe achtet und seinen Motivhaushalt kennenlernt, desto mehr entdeckt er, dass die psychischen Kräfte das eigentlich Weltbewegende sind. Geburt und Tod sind nicht Geburt und Tod der Psyche; nur der Körper stirbt, das eigentlich Lebendige und Bewegende bleibt bestehen. Dabei ist die Psyche des Menschen so eng an seine physische Darstellung gebunden, dass sie ein feinstoffliches Abbild des Leibes auch über den Tod hinaus mitnimmt.  Im Tode verlässt die Psyche mitsamt dem "Astralleib" den "natürlichen Leib" und existiert in einer metaphysischen Dimension. Dort setzen sich die Folgen von Tugend und Untugend fort - und das nennen die Religionen Himmel und Hölle. Aus allen guten und üblen Taten reifen Früchte heran (Karma). Die Verantwortung für unsere Gedanken und Taten wächst damit ins Unendliche. Die Seele kommt aus dem Jenseits, inkarniert sich hier, wandelt sich und wandert dann weiter, um sich weiter zu wandeln. Jeder hat sein Schicksal - besser "Schaffsal" - in der Hand und nicht kann einen treffen, was man nicht selber ausgeschickt hat. Dies ist die dritte Lehre des Buddha.
  4. Mystik (nekkhammam) - Es gibt eine selige Seinsweise im inneren Frieden, unabhängig von sinnlicher Wahrnehmung. Die dies erkannt haben, sind die Mystiker aller Religionen. Sie erfuhren, dass Befriedigung nicht Frieden ist, sondern dass wahrer Friede nur im selbstgenügsamen, gestillten und befreiten Herzen wohnt. "Gott in der Seele finden", nennen sie es. Der Buddha nennt es das selbstleuchtende Gemüt, das in sich genug hat, indem es die Eigenschaften Liebe und Barmherzigkeit, Geduld und Dankbarkeit, Zufriedenheit und heitere Gelassenheit ausbildete. In dieser Verinnerlichung besitzt man die ganze Welt. Man gewinnt einen seelischen Reichtum, der über alle Glücksvorstellungen und bisher bekannten Erfüllungsmöglichkeiten weit hinausgeht. Das ist die vierte Lehre des Buddha.
  5. Wahrheit - Da aber alle Seinsweisen vergänglich sind, kreisen alle Wesen im Wechsel endlos durch seligste bis qualvollste Existenzen. Den Ausweg zeigt der Erwachte mit den vier heilenden Wahrheiten. Die vier heilenden Wahrheiten zeigen: Wie weit das Leiden reicht, was Antrieb und Fortsetzung des Leidens ist, dass die Aufhebung des Antriebs Not tut, die Vorgehensweise zu dessen Aufhebung. In den Pali-Worten  "die Vier Edlen Wahrheiten" (cattari-ariya-saccani) ist eine doppelte Bedeutung enthalten. Einmal "fundamentale Wahrheit, grundlegendes Prinzip" und zum anderen "wesentliche charakteristische Komponente; das, was einem Stoff seine wesentlichen Eigenschaften verleiht".  Kurz ausgedrückt: Wenn die 4 Wahrheiten (sacca) erfahren werden, wird erkannt, dass sie "wahr" sind und man wird sich ihrer "wirklich" bewusst. Die Verwandlung des eigenen Seins könnte aber nicht geschehen, wenn sacca nur "Wahrheit" im epistemologischen Sinne bedeutete, nicht aber gleichzeitig auch "Existenz", vom Beginn der grundlegenden Bewusstheit des Leidens bis zum Höhepunkt der äußersten Erfahrung bedeutete. Infolgedessen nimmt der Begriff ariya in der Formel die Mitbedeutung von "Erhabenheit", "Vollendung" an, die den Status des arahat (des Geheilten) zur Folge hat und bezeichnet somit mehr als nur den ethnischen Status oder die soziale Einstufung als "Edlen".

 

Dies nun ist die edle Wahrheit vom Leiden (dukkha-ariya-sacca):

a) Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden.

b) Sorge, Jammer, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung sind Leiden.

c) Mit Unliebem vereint sein, ist Leiden; von Liebem getrennt sein, ist Leiden.

d) Nicht erlangen, was man begehrt, ist Leiden.

e) Kurz gesagt, die fünf Zusammenhäufungen oder Aneignungen (Pali: khandha) sind Leiden.

Anmerkung: Es wird unterschieden von a) bis d): Leiden an der Form, Leiden am Gefühl, Leiden an der Gewahrung,  Leiden an den Aktivitäten. Die fünf Zusammenhäufungen (e) ergeben sich aus a-d und der Erfassungsgewohnheit, welche das Schwungrad der Aktivität darstellt. Das Leiden durchschauen, die erste Heilswahrheit begreifen, heißt also, die fünf Aneignungen, Zusammenhäufungen (khandha) zu betrachten, wodurch die vierte und fünfte Zusammenhäufung korrigiert werden. Alles, was irgend erfahren wird und erfahrbar ist, einschließlich des Erfahrens selber, das ist immer nur innerhalb dieser fünf Zusammenhäufungen - es gibt keine andere Möglichkeit.

Den Ausbruch aus diesem Leidenszusammenhang bewirkt die Aktivität (vierte Zusammenhäufung) des Geistes, in den die Kenntnis der Heilswahrheiten gelangt ist.

Dies nun ist die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens (dukkha-samudaya-ariya-sacca):

Es ist jener Wiedergeburt säende Durst (Pali: tanha), der hier und dort gefallen findet. Der Durst nach Sinneslust, der Durst nach Dasein, der Durst nach Wohlsein.

Anmerkung: Der Durst ist die am besten sichtbare und erkennbare unter mehreren Grundlagen und Antrieben der gesamten Leidensmasse. Aber in näher erklärenden Lehrreden wird er immer auf Unwissen, Verblendung zurückgeführt.

Der Durst ist die Ursache fast aller vom Menschen ausgehenden Bewegung und Dynamik, die Ursache aller Verwicklungen, Krisen und Katastrophen im Laufe der menschlichen Entwicklung. Bei aller Kraft des Durstes besteht er aber doch nicht aus sich heraus, sondern er steht und fällt mit der Kraft der Triebe und der von ihnen entworfenen gefühlsbesetzten Wahrnehmung, die der Erwachte als Blendung (moha) bezeichnet. Die Triebe wählen das zu Beachtende nicht aus nach Vernunft, Moral oder Notwendigkeit, sondern die Stärke der Triebe, das Anliegen bestimmt bei der Berührung mit den Außendingen völlig blind die Stärke des Gefühls; z.B. erleben Menschen auf Grund ihrer unterschiedlichen Triebe dieselbe Umgebung of völlig verschieden bis gegensätzlich. Sie erleben sie durch ihre Triebe verblendet. Hinzu kommt, dass die gefühlsbesetzte Wahrnehmungen, die den Geist füllen, in diesem die wahnhafte Vorstellung erzeugen: "Der Empfindende bin ich, das Empfundene ist die Welt." Und "Dies gefällt mir, jenes missfällt mir." Nur auf Grund dieser Wahnvorstellung von Ich und Welt kann Durst aufkommen, gespürte Zuneigung zu diesem oder Abneigung gegen jene Objekte.

Wie eng Durst und Wahn zusammenhängen, beschreibt der Erwachte in einem Gleichnis (Mittlere Sammlung 105). Er vergleicht den normalen, von ihm nicht belehrten Menschen mit einem vom Giftpfeil getroffenen und darum in Todesgefahr stehenden. Der Pfeil, der eine Wunde aufreißt, in der er nun steckt, ist ein Gleichnis für den Durst. Das tödliche Gift am Pfeil gilt als Gleichnis für Wahn (avijja).

Dies nun ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens (dukkha-nirodha-ariya-sacca):

Es ist eben dieses Durstes spurloses, restloses Aufheben, Aufgeben, Verwerfen, Ablegen.

Anmerkung: In der dritten Wahrheit sagt der Buddha, dass durch allmähliche bis endgültige Aufhebung des Durstes (tanha) auch alles Leiden gemindert bis endgültig aufgehoben wird.

Wer durch die Lehre des Erwachten begriffen hat, dass die Weltwahrnehmung ein delirienhaftes Träumen von selbst ausgesponnenen Vorstellungen ist und dass sein gespürter Durst und Drang nach Befriedigung letztlich durch seine wahnhafte Einbildung bedingt ist - einen solchen Menschen vergleicht der Erwachte mit einem Verwundeten, bei welchem der Giftpfeil samt dem Gift zwar aus der Wunde herausgezogen, die Wunde selbst aber noch nicht geheilt ist. Das tödliche Gift am Pfeil gilt als Gleichnis für Wahn. Der Pfeil, der in der Wunde schmerzt, ist ein Gleichnis für den Durst (tanha). Das Herausziehen des Pfeils aus der Wunde durch einen Arzt bedeutet, dass der Mensch durch die Belehrung seitens des Erwachten den Automatismus der sich gegenseitig bedingenden Abläufe der fünf Zusammenhäufungen oder der sechs Gegebenheiten - der Dränge nach Berührung - des geistigen Angehens begriffen hat. Die Bande des Wahns sind ihm abgenommen. Er kann bei nüchterner Überlegung nicht mehr dem trügerischen Anschein verfallen, dem Wahneindruck, den die sinnliche Wahrnehmung auch ihm immer noch aufdrängen will, dem Eindruck, dass da ein empfindendes Ich sei, dem die erlebte Welt gegenübersteht.

Aber die von dem Giftpfeil aufgerissene Wunde besteht noch und schmerzt öfter - das bedeutet, dass sein Herz von der Verstrickung des Wahns und Durstes noch nicht frei ist und dass darum die Sinneserfahrung fast noch die gleichen Wohl- und Wehgefühle auslösen wie zuvor und zur Befriedigung drängen. Einen solchen Menschen vergleicht der Erwachte mit einem Menschen, der da eine Schüssel mit verlockend aussehender, lieblich duftender Speise sieht, die auch köstlichen Geschmack verspricht, dass er aber von ihr weiß, dass sie vergiftet ist. Den Sinnesdrängen (das ist die Wunde) ist die Speise verlockend, und das reißt ihn noch öfter hin, sie zu genießen, aber in seinem Geist ist die Warnung, diese als tödlich durchschaute Speise nicht zu genießen: so ist der noch zwitterhafte, noch widerspruchsvolle Zustand des Heilsgängers, der den Weg der Heilsentwicklung endgültig betreten hat. Dieser Zustand währt so lange, als die Pfeilwunde noch nicht geheilt, das sinnliche Begehren aus dem Körper noch nicht ausgetrieben ist. In seinem Geist aber hat er bereits Wahn und Durst erkannt als die Ursache all seiner Leiden und Irrfahrten.

Dies nun ist die edle Wahrheit von dem zur Aufhebung des Leidens führenden Pfad (dukkha-nirodha-gamini-patipada-ariya-sacca):

Es ist das der edle, achtteilige Weg, nämlich: Reche Anschauung, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechte Lebensführung, rechtes Streben, rechte Wahrheitsgegenwart, rechte Herzenseinigung.

Anmerkung: Der Zweck der vierten Wahrheit besteht darin, die einzig mögliche Vorgehensweise zur schrittweisen Auflösung aller Durstarten aufzuzeigen. Erläutert wird der Pfad auf der Seite: Achtfacher Pfad.

Der moderne Mensch hat wenig Erfahrung in der Umerziehung des gesamten Verhaltens, weil es heute in der Welt kaum noch solche tiefen religiösen Einsichten und Disziplinen gibt, die dergleichen lehren und betreiben. Unter allen westlichen Wissenschaften fehlt die Heilswissenschaft. Darum kann man sich sehr schwer vorstellen, wie langsam eine solche Umerziehung vor sich geht und wie vieler Anläufe und Anstrengungen es bedarf.


Diese Lehre, welche die aus dem Daseinstraum Erwachten vor allen anderen Heilslehrern auszeichnet, ist das gesamte dessen, was an Heilstauglichem mitteilbar ist: Die vollständige Wahrheit vom Heil und seiner Erreichbarkeit.

Weil nun alle vier Wahrheiten das Leiden betreffen, sagen manche Menschen, die Lehre des Buddha sei pessimistisch und lebensverneinend. Diese übersehen, dass die ersten beiden Wahrheiten die leidigen Dinge innerhalb der Existenz und ihre Ursachen nur sachlich nennen, während die dritte und vierte dieser Heilswahrheiten ja gerade von der Überwindung des Leidens handeln. Jeder realistische und besonnene Mensch weiß, dass er Hindernisse, Widerstände oder Feinde nur dann überwinden kann, wenn er sie zuerst gründlich kennt und klar durchschaut. Ganz ebenso sagt der Erwachte, dass der Mensch seinen Hauptfeind und Urfeind, eben das Leiden, nur dann meiden und wirklich überwinden kann, wenn er alle Leidensquellen, auch die verborgenen, gut kennt. Die offenbaren Leidensquellen meidet ein besonnener Mensch schon aus eigener Erkenntnis; weil er aber viele verborgene Leidensquellen nicht kennt, darum gerät auch er in Leiden.

Der Erwachte zeigt aus diesem Grunde mit den beiden ersten Wahrheiten Umfang und Herkunft des Leidens und beschreibt in den zwei weiteren Wahrheiten, dass und wie man von dem gesamten Leiden endgültig freiwerden kann. So stellen gerade diese vier Heilswahrheiten vom Leiden die positivste, realistischte und umfassendste Lehre von der Überwindung des Leidens dar. Sie gehen dem Übel an die Wurzel, um des dann von der Wurzel her aufzulösen.

(Paul Debes)