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"Durch das Nichtverstehen, Nichtdurchdringen von vier Wahrheiten, ihr Jünger, haben sowohl ich als auch ihr diese lange Zeit das Dasein durcheilt, das Dasein durchwandert. Von welchen vier Wahrheiten? Durch das Nichtverstehen, Nichtdurchdringen der edlen Wahrheit vom Leiden, von der Leidens-Entstehung, von der Leidens-Erlöschung und dem zur Leidens-Erlöschung führenden Pfad. Durch das Nichtverstehen, Nichtdurchdringen dieser vier Wahrheiten haben sowohl ich als auch ihr diese lange Zeit das Dasein durcheilt, das Dasein durchwandert."
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Die 4 edlen (heilenden) Wahrheiten Die „vier heilenden Wahrheiten“ bilden die Spitze einer Pyramide von fünf aufsteigenden Lehren des Erwachten. Als Vorbereitung für das Verständnis nennt der Erwachte zuerst vier Lehren, die erst aus dem Vordergründigen und Banalen herausheben. Die Kenntnis aller fünf Lehren und ihre praktische Befolgung führen den Menschen in diesem Leben und darüber hinaus zu immer weiteren Erleichterungen, Erhellungen und Erhöhungen.
Diese fünf Grade sind:
Dies nun ist die edle Wahrheit vom Leiden (dukkha-ariya-sacca): a) Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden. b) Sorge, Jammer, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung sind Leiden. c) Mit Unliebem vereint sein, ist Leiden; von Liebem getrennt sein, ist Leiden. d) Nicht erlangen, was man begehrt, ist Leiden. e) Kurz gesagt, die fünf Zusammenhäufungen oder Aneignungen (Pali: khandha) sind Leiden. Anmerkung: Es wird unterschieden von a) bis d): Leiden an der Form, Leiden am Gefühl, Leiden an der Gewahrung, Leiden an den Aktivitäten. Die fünf Zusammenhäufungen (e) ergeben sich aus a-d und der Erfassungsgewohnheit, welche das Schwungrad der Aktivität darstellt. Das Leiden durchschauen, die erste Heilswahrheit begreifen, heißt also, die fünf Aneignungen, Zusammenhäufungen (khandha) zu betrachten, wodurch die vierte und fünfte Zusammenhäufung korrigiert werden. Alles, was irgend erfahren wird und erfahrbar ist, einschließlich des Erfahrens selber, das ist immer nur innerhalb dieser fünf Zusammenhäufungen - es gibt keine andere Möglichkeit. Den Ausbruch aus diesem Leidenszusammenhang bewirkt die Aktivität (vierte Zusammenhäufung) des Geistes, in den die Kenntnis der Heilswahrheiten gelangt ist. Dies nun ist die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens (dukkha-samudaya-ariya-sacca): Es ist jener Wiedergeburt säende Durst (Pali: tanha), der hier und dort gefallen findet. Der Durst nach Sinneslust, der Durst nach Dasein, der Durst nach Wohlsein. Anmerkung: Der Durst ist die am besten sichtbare und erkennbare unter mehreren Grundlagen und Antrieben der gesamten Leidensmasse. Aber in näher erklärenden Lehrreden wird er immer auf Unwissen, Verblendung zurückgeführt. Der Durst ist die Ursache fast aller vom Menschen ausgehenden Bewegung und Dynamik, die Ursache aller Verwicklungen, Krisen und Katastrophen im Laufe der menschlichen Entwicklung. Bei aller Kraft des Durstes besteht er aber doch nicht aus sich heraus, sondern er steht und fällt mit der Kraft der Triebe und der von ihnen entworfenen gefühlsbesetzten Wahrnehmung, die der Erwachte als Blendung (moha) bezeichnet. Die Triebe wählen das zu Beachtende nicht aus nach Vernunft, Moral oder Notwendigkeit, sondern die Stärke der Triebe, das Anliegen bestimmt bei der Berührung mit den Außendingen völlig blind die Stärke des Gefühls; z.B. erleben Menschen auf Grund ihrer unterschiedlichen Triebe dieselbe Umgebung of völlig verschieden bis gegensätzlich. Sie erleben sie durch ihre Triebe verblendet. Hinzu kommt, dass die gefühlsbesetzte Wahrnehmungen, die den Geist füllen, in diesem die wahnhafte Vorstellung erzeugen: "Der Empfindende bin ich, das Empfundene ist die Welt." Und "Dies gefällt mir, jenes missfällt mir." Nur auf Grund dieser Wahnvorstellung von Ich und Welt kann Durst aufkommen, gespürte Zuneigung zu diesem oder Abneigung gegen jene Objekte. Wie eng Durst und Wahn zusammenhängen, beschreibt der Erwachte in einem Gleichnis (Mittlere Sammlung 105). Er vergleicht den normalen, von ihm nicht belehrten Menschen mit einem vom Giftpfeil getroffenen und darum in Todesgefahr stehenden. Der Pfeil, der eine Wunde aufreißt, in der er nun steckt, ist ein Gleichnis für den Durst. Das tödliche Gift am Pfeil gilt als Gleichnis für Wahn (avijja). Dies nun ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens (dukkha-nirodha-ariya-sacca): Es ist eben dieses Durstes spurloses, restloses Aufheben, Aufgeben, Verwerfen, Ablegen. Anmerkung: In der dritten Wahrheit sagt der Buddha, dass durch allmähliche bis endgültige Aufhebung des Durstes (tanha) auch alles Leiden gemindert bis endgültig aufgehoben wird. Wer durch die Lehre des Erwachten begriffen hat, dass die Weltwahrnehmung ein delirienhaftes Träumen von selbst ausgesponnenen Vorstellungen ist und dass sein gespürter Durst und Drang nach Befriedigung letztlich durch seine wahnhafte Einbildung bedingt ist - einen solchen Menschen vergleicht der Erwachte mit einem Verwundeten, bei welchem der Giftpfeil samt dem Gift zwar aus der Wunde herausgezogen, die Wunde selbst aber noch nicht geheilt ist. Das tödliche Gift am Pfeil gilt als Gleichnis für Wahn. Der Pfeil, der in der Wunde schmerzt, ist ein Gleichnis für den Durst (tanha). Das Herausziehen des Pfeils aus der Wunde durch einen Arzt bedeutet, dass der Mensch durch die Belehrung seitens des Erwachten den Automatismus der sich gegenseitig bedingenden Abläufe der fünf Zusammenhäufungen oder der sechs Gegebenheiten - der Dränge nach Berührung - des geistigen Angehens begriffen hat. Die Bande des Wahns sind ihm abgenommen. Er kann bei nüchterner Überlegung nicht mehr dem trügerischen Anschein verfallen, dem Wahneindruck, den die sinnliche Wahrnehmung auch ihm immer noch aufdrängen will, dem Eindruck, dass da ein empfindendes Ich sei, dem die erlebte Welt gegenübersteht. Aber die von dem Giftpfeil aufgerissene Wunde besteht noch und schmerzt öfter - das bedeutet, dass sein Herz von der Verstrickung des Wahns und Durstes noch nicht frei ist und dass darum die Sinneserfahrung fast noch die gleichen Wohl- und Wehgefühle auslösen wie zuvor und zur Befriedigung drängen. Einen solchen Menschen vergleicht der Erwachte mit einem Menschen, der da eine Schüssel mit verlockend aussehender, lieblich duftender Speise sieht, die auch köstlichen Geschmack verspricht, dass er aber von ihr weiß, dass sie vergiftet ist. Den Sinnesdrängen (das ist die Wunde) ist die Speise verlockend, und das reißt ihn noch öfter hin, sie zu genießen, aber in seinem Geist ist die Warnung, diese als tödlich durchschaute Speise nicht zu genießen: so ist der noch zwitterhafte, noch widerspruchsvolle Zustand des Heilsgängers, der den Weg der Heilsentwicklung endgültig betreten hat. Dieser Zustand währt so lange, als die Pfeilwunde noch nicht geheilt, das sinnliche Begehren aus dem Körper noch nicht ausgetrieben ist. In seinem Geist aber hat er bereits Wahn und Durst erkannt als die Ursache all seiner Leiden und Irrfahrten. Dies nun ist die edle Wahrheit von dem zur Aufhebung des Leidens führenden Pfad (dukkha-nirodha-gamini-patipada-ariya-sacca): Es ist das der edle, achtteilige Weg, nämlich: Reche Anschauung, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechte Lebensführung, rechtes Streben, rechte Wahrheitsgegenwart, rechte Herzenseinigung. Anmerkung: Der Zweck der vierten Wahrheit besteht darin, die einzig mögliche Vorgehensweise zur schrittweisen Auflösung aller Durstarten aufzuzeigen. Erläutert wird der Pfad auf der Seite: Achtfacher Pfad. Der moderne Mensch hat wenig Erfahrung in der Umerziehung des gesamten Verhaltens, weil es heute in der Welt kaum noch solche tiefen religiösen Einsichten und Disziplinen gibt, die dergleichen lehren und betreiben. Unter allen westlichen Wissenschaften fehlt die Heilswissenschaft. Darum kann man sich sehr schwer vorstellen, wie langsam eine solche Umerziehung vor sich geht und wie vieler Anläufe und Anstrengungen es bedarf. Diese Lehre, welche die aus dem Daseinstraum Erwachten vor allen anderen Heilslehrern auszeichnet, ist das gesamte dessen, was an Heilstauglichem mitteilbar ist: Die vollständige Wahrheit vom Heil und seiner Erreichbarkeit. Weil nun alle vier Wahrheiten das Leiden betreffen, sagen manche Menschen, die Lehre des Buddha sei pessimistisch und lebensverneinend. Diese übersehen, dass die ersten beiden Wahrheiten die leidigen Dinge innerhalb der Existenz und ihre Ursachen nur sachlich nennen, während die dritte und vierte dieser Heilswahrheiten ja gerade von der Überwindung des Leidens handeln. Jeder realistische und besonnene Mensch weiß, dass er Hindernisse, Widerstände oder Feinde nur dann überwinden kann, wenn er sie zuerst gründlich kennt und klar durchschaut. Ganz ebenso sagt der Erwachte, dass der Mensch seinen Hauptfeind und Urfeind, eben das Leiden, nur dann meiden und wirklich überwinden kann, wenn er alle Leidensquellen, auch die verborgenen, gut kennt. Die offenbaren Leidensquellen meidet ein besonnener Mensch schon aus eigener Erkenntnis; weil er aber viele verborgene Leidensquellen nicht kennt, darum gerät auch er in Leiden. Der Erwachte zeigt aus diesem Grunde mit den beiden ersten Wahrheiten Umfang und Herkunft des Leidens und beschreibt in den zwei weiteren Wahrheiten, dass und wie man von dem gesamten Leiden endgültig freiwerden kann. So stellen gerade diese vier Heilswahrheiten vom Leiden die positivste, realistischte und umfassendste Lehre von der Überwindung des Leidens dar. Sie gehen dem Übel an die Wurzel, um des dann von der Wurzel her aufzulösen. (Paul Debes)
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