„Karmische Folgen lassen sich nicht verstehen, und deshalb sollte man darüber keine Spekulationen anstellen. Alles Nachdenken darüber würde nur zur Verwirrung und Elend führen.

Deshalb richte nicht über die Menschen, Ananda; und mutmaße nicht über andere; ein Mensch schadet sich selbst, wenn er über andere urteilt.“

(Anguttara Nikaya)

In den Lehrreden des Buddha finden wir fünf Regeln als äußerste Grenzpfähle des Tuns und Lassens. In folgendem Wortlaut nimmt der in der Häuslichkeit lebende Anhänger des Erwachten auch heute noch diese fünf Sila (Sittlichkeitsregeln oder Tugendregeln) auf sich:

Die Abneigung gegen das Töten mir einzuüben -

             das nehme ich auf mich.

Die Abneigung gegen das Nehmen von Nichtgegebenem mit einzuüben -

             das nehme ich auf mich.

Die Abneigung gegen Einbruch in andere Partnerschaften und Verführung Minderjähriger mir einzuüben -

             das nehme ich auf mich.

Die Abneigung gegen betrügerische Rede mir einzuüben -

             das nehme ich auf mich. 

Die Abneigung gegen Rauschmittel mir einzuüben -

             das nehme ich auf mich.

Die Nichteinhaltung der fünf Sittlichkeitsregeln bezeichnet der Erwachte als fünf schreckliche Gefahren, die zur Unterwelt führen. Daraus ergibt sich, dass die Innehaltung der fünf Regeln den Gang in die Unterwelt versperrt.

Gleichviel ob einer Buddhist oder Christ ist oder einer anderen Religion angehört oder keiner  -  jeder, der diese fünf Verhaltensweisen einhält, geht in Helleres. Hier schon lebt er mit weniger Spannungen, weniger roh, wenn er auch hin und wieder an rohe Menschen geraten kann. Aber wer die fünf Tugendregeln sein ganzes Leben bis zum Sterben einhält, der gelangt nach dem Tode zu solchen Wesen, die das Rohe gar nicht mehr an sich haben, die ihm in der Innehaltung der Tugendregeln gleichen.

Fünf sichere Vorteile erlangt man durch Tugend (Digha Nikaya 16):

1. Reichtum, Wohlstand.

2. Guter Ruf, Ansehen, Vertrauen.

3. Innere erfahrungsgegründete Sicherheit.

4. Klarbewusstes heiteres Abscheiden.

5. Aufstieg zu höheren, helleren Reichen.

Hier im Westen meint man, dass die Anerkennung der Tugend = Tauglichkeitsregeln im Geist nun fast unmittelbar ihre Innehaltung mit sich bringe, zumal man manche ja sowieso innehalte. Zu einer solchen Auffassung lässt man sich verleiten von seiner momentanen positiveren Gemütshaltung. Der um seine innere Entwicklung besorgte Mensch wird bald einsehen und sagen, dass diese fünf Lebensnormen ja wirklich das Mindestmaß seien an rechter Lebensführung, um schon hier im Leben viele Leiden zu vermeiden und erst recht im Samsara den Daseinsabgründen zu entrinnen und fernzubleiben. In einer solchen einsichtigen Gemütsverfassung fühlt er sich mehr oder weniger fern von der Möglichkeit, die Sila zu brechen.

Aber gerade der ernsthafte Heilsucher wird schon oft bei sich bemerkt haben, wie weit doch der Weg ist von dem im Geist gefassten Entschluss  bis zu der wirklichen praktischen und dauernden Innehaltung dieser Leitwege.

Es gibt in unserer Gesellschaft viele Möglichkeiten, wie die fünf Sila nicht eingehalten werden:

1. Beim Nichttöten sind auch die Tiere gemeint, die im Westen am meisten unter dem Bruch des ersten Sila zu leiden haben: Vivisektion, Insektizide und vor allem das Schlachten, um dem Gaumengenuss frönen zu können. Und Schlachthöfe führen zu Schlachtfeldern. Die so genannten "gerechten Kriege" sind nicht weniger übel als die Kreuzzüge des Mittelalters. Besonders ist auch der millionenfachen Opfer der Abtreibung zu gedenken. Statt von "Abtreibung" oder "Tötung der Leibesfrucht" spricht man von "Unterbrechung der Schwangerschaft".

2. Stehlen, wörtlich "Nehmen von Nichtgegebenem". In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, wie sie der Buddha schaute, stand der Diebstahl aus Bequemlichkeit an der Spitze, der Notdiebstahl aus Hunger kam erst später. Und heute:  Ladendiebstahl grassiert stark. Auch Lug und Trug in der Wirtschaftskriminalität gehört hierher.

3. "Sex and Crime" ist ein geflügeltes Wort für den Inhalt von Fernsehen und Romanen, Internetinhalten. Ausschweifungen, Ehebruch, Vergewaltigung, Verführung, Perversitäten und Obszönitäten sind allgegenwärtig. In der alles zulassenden Gesellschaft herrscht der Libertinismus, schrankenlose, hemmungslose Lust.

4. Lug und Trug. Ein Sprichwort sagt: "Es wird nie so viel gelogen, wie vor einer Wahl, während eines Krieges und nach einer Jagd". Wie windet man sich und streitet ab, was doch nur "lauter Lügen" waren! Was wird nicht alles gefälscht!

5. Rauschmittel: Hier ist der Bruch am weitesten verbreitet, weil das Unrechtsbewusstsein weitgehend fehlt, besonders, wenn man nur mäßig trinkt. Da Menschen ohne Maßstäbe und Religion immer mehr oder weniger Sorgen haben müssen, neigen sie dazu, dem Kummer, der Depression, dem grauen Einerlei des Alltags, der Unlust durch Alkohol zu entfliehen.

Wir sehen am Wortlaut der fünf Tugendregeln, dass die Umgewöhnung als Übungsweg erkannt wird — und so wird sie auch in den Reden oft genannt, also als ein Weg, auf welchem man nur allmählich durch Übung, Anstrengung, Tatkraft vorwärts kommt.

Das zeigt noch mehr der ausführlichere Wortlaut der Tugendregeln, wie sie im achtgliedrigen Heilsweg genannt sind, wo die Tugendregeln im Bereich der Rede noch erweitert aufgeführt sind:

Lebewesen zu töten - das hat er aufgegeben; dem Töten von Lebewesen widerstrebt sein ganzes Wesen. Ohne Stock, ohne Schwert, fühlsam, voll Teilnahme hegt er zu allen Wesen Liebe und Mitleid.      

Nichtgegebenes zu nehmen - das hat er aufgegeben; dem Nehmen von Nichtgegebenem widerstrebt sein ganzes Wesen. Gegebenes nur nimmt er, Gegebenes wartet er ab, nicht diebisch gesinnt, rein gewordenen Herzens.

Unkeuschen Wandel - das hat er aufgegeben; in Reinheit lebt er, abgeschieden, von dem weltlichen Geschlechterverkehr ganz abgewandt.

(Der Erwachte rät dem im Hause Lebenden zur zeitweisen Enthaltsamkeit. Er legt dem Nachfolger nahe, daran zu denken, dass die Mönche zeitlebens keusch leben, er solle wenigstens alle sieben Tage, am Uposatha-Tag die Erfahrung der Keuschheit machen.)

Betrügerische Rede hat er aufgegeben; betrügerische Rede widerstrebt sein ganzes Wesen. Die Wahrheit spricht er, der Wahrhaftigkeit ist er ergeben, standhaft, vertrauenswürdig. Von den üblichen Ungeradheiten lässt er ab.

Das Hintertragen hat er aufgegeben. Dem Hintertragen widerstrebt sein ganzes Wesen. Was er hier gehört hat, das berichtet er nicht dort wieder, um jene zu entzweien; was er dort gehört hat, das berichtet er nicht hier wieder, um diese zu entzweien; vielmehr einigt er Entzweite und festigt Verbundene. Eintracht macht ihn froh, Eintracht freut ihn, Eintracht beglückt ihn, Eintracht fördernde Worte spricht er.

Verletzende Worte zu reden - das hat er aufgegeben; dem Aussprechen verletzender Worte widerstrebt sein ganzes Wesen. Worte, die nicht verletzen, dem Ohre wohl tun, liebreich, zum Herzen dringend, höflich, viele erfreuend, viele erhebend - solche Worte spricht er.

Leeres Geschwätz hat er aufgegeben, allem leeren Gerede widerstrebt sein ganzes Wesen. Zur rechten Zeit spricht er, den Tatsachen gemäß, auf den Sinn bedacht, der Lehre und Ordnung getreue. Seine Rede ist reich an Inhalt, klar abgegrenzt, alles umschließend, ihrem Gegenstande angemessen.

Der Erwachte nennt hier bei jeder Tugendregel die sie veranlassende Gesinnung. Er empfiehlt also:

Nicht nur nicht zu töten, sondern

             fühlsam, voll Teilnahme zu sein usw.

Wir sehen, dass die Veränderung der Perspektive darin besteht, von der Nächstenblindheit (vyapada), aus der all unser unabsichtliches und absichtliches übles Tun hervorgeht, zu der echten Nächstenliebe, der Ich-Du-Gleichheit (metta) zu kommen, dass wir also den „natürlichen Standpunkt“, alles Begegnende nach den eigenen Interessen zu wägen, zu behandeln und zu nutzen, verlassen - zu verlassen uns gewöhnen, dass wir uns umstellen, uns in die Lage des Nächsten versetzen, der ja die gleichen Grundinteressen und Bestrebungen wie wir hat, und dass wir diese sehen und nachempfinden.

Wir müssen wissen, dass die Liebe sich stets in der Fürsorge zeigt: Die Eigenliebe zeigt sich in der Fürsorge für sich selbst; die Nächstenliebe zeigt sich in der Fürsorge für den Nächsten.

Diese Umstellung zur richtigen Einstellung zum „Du“ lehrt der Erwachte seine Mönchen und Hausleute in Bezug auf alle Sila.

Die fünf Tugendregeln des Erwachten bilden den Anfang des Weges zur Läuterung. Sie haben zum Ziel, die Schädigung der Mitwesen durch Übelwollen und Rücksichtslosigkeit zu vermeiden. Das gilt selbst vom Alkoholtrinken, weil man dadurch außer Kontrolle gerät und die Mitwesen verletzen oder schädigen kann.

Ihre Einhaltung ist die Umbildung dahin, die Gefühle, Wünsche und Empfindungen des Nächsten ebenso zu berücksichtigen, ja mitzufühlen und nachzufühlen wie unsere eigenen: Erst in dieser Fähigkeit, die Interessen des Nächsten mit den eigenen Interessen zu einem einzigen unaufspaltbaren Anliegen zu machen - wie die Mutter bei ihrem Kind - ist der Tugendstatus begründet, den der Erwachte mit „silasampanna“ bezeichnet: Es ist eine gewachsene, bewährte Hochherzigkeit, die gar nicht mehr irgendwie auf Kosten des anderen leben mag.

Die Tugendregeln sind dann voll innegehalten, wenn man sie 1. selbst befolgt, 2. keinen anderen veranlasst, sie zu übertreten, 3. das Übertreten durch andere nicht gutheißt.

In einem Text des Anguttara-Nikaya (VIII, 39) bezeichnet der Erwachte die Tugendregeln als höchste Gaben:

"Es gibt da, ihr Freunde, fünf Gaben, große Gaben, bekannt als die höchsten, bekannt als die ältesten, bekannt als überlieferte, alte, unversehrte, noch nie außer Geltung gewesene Gaben, die nie versagen und nie untergehen und nie getadelt werden von Weisen, Reinen und Verständigen.

Welche Gaben sind das?

Da steht der Nachfolger ab vom Töten, entfremdet sich sich ganz vom Töten; er steht ab vom Stehlen, entfremdet sich ganz vom Stehlen; er steht ab von unrechtem geschlechtlichen Verkehr, entfremdet sich ganz von unrechtem geschlechtlichen Verkehr; er steht ab von trügerischer Rede, entfremdet sich ganz von trügerischer Rede; er steht ab vom Genuss berauschender Mittel, entfremdet sich ganz vom Genuss berauschender Mittel.

Dadurch aber, dass er sich vom Töten, Stehlen, unrechtem Geschlechtsverkehr, trügerischer Rede, von berauschenden Mitteln ganz entfremdet, gewährt er unermesslich vielen Wesen Sicherheit vor Schrecken, Feindschaft und Bedrückung.

Indem er aber unermesslich vielen Wesen Sicherheit vor Schrecken, Feindschaft und Bedrückung gewährt, wird ihm unermessliche Sicherheit vor Schrecken, Feindschaft und Bedrückung zuteil. Das sind die fünf großen Gaben."

(Anmerkung: "unermesslich viel" heißt es darum, weil die im jetzigen Menschenleben wirklich erworbene innere Entfremdung von solchem Tun so tief in das Gemüt eingeprägt ist, dass diese erworbene Lebensart sich auch in vielen, vielen  weiteren Lebensläufen durchsetzt.)

 

Literatur: Hellmuth Hecker, Die Psychologie der Befreiung.