"Acht Befreiungen gibt es, ihr Mönche: welche acht?"

(Anguttara Nikaya VIII, 66)

Bei den Befreiungen wird stufenweise die gefühlsgeborene Wahrnehmung verfeinert und bedacht, was nur nach der Aufhebung der fünf Hemmungen (siehe dortiges Kapitel), d.h. auf der Stufe der Einigung möglich ist.

Ein Herantasten an dieses Gebiet beginnender leibhaftiger Auflösung der Vielfalt-Erlebniswelt kann bei entsprechender Einfühlung auch dem im Hause Lebenden, dem die systematischen Übungen des Mönches noch nicht zu Gebote stehen, durchaus zur Befreiung von der gewohnten "Weltgläubigkeit" hilfreich sein.

Paul Debes sagt zu den Befreiungen:

"Diese Übungen liegen zwar nicht so fern von uns, dass wir sie nicht bedenken und umdenken, und uns zu ihnen hinsehnen sollten. Aber zugleich müssen wir wissen und bedenken, wo wir selbst stehen. Der Erwachte rät immer wieder, dass wir zuerst innerlich heller und wärmer werden durch die Ausbildung von mitfühlendem Verständnis für alle Wesen (metta). Denn dann werden wir so glücklich in uns, dass wir die Sinnendinge nicht mehr in dem Maße brauchen." (Wissen und Wandel 1996)

Zum Verständnis der Befreiungen ist auf Folgendes hinzuweisen: Was man bisher nur theoretisch und logisch, mehr oder weniger mühsam dem Denken abgerungen, eingesehen hatte, dass nämlich die Weltwahrnehmung nichts anderes ist als ein Spiegelbild des Herzens, das beginnt nun existenziell greifbar und anschaulich erlebbar zu werden. Indem das Herz von den fünf Hemmungen geläutert wurde, kann das reine Herz nun auch die von ihm gewirkte Welt wirklichkeitsgemäßer sehen.

Der Buddha berichtet aus seiner eigenen Meditationspraxis im Kampf mit den Herzenstrübungen, dass er vor der Gewinnung der vollen Einigung der Entrückungen ein Wohlbefinden erlebte, das er als Wahrnehmung von "Abglanz und Anblick der Umrisse" beschreibt. In unserem Sprachgebrauch würde man dies als Vision bezeichnen, wenngleich dieser Ausdruck heute so verschwommen ist, dass er von Halluzinationen kaum mehr zu unterscheiden ist. Die Mystiker aller Zeiten und Räume aber verstehen Visionen als bildliche Antworten des Herzens auf seine Läuterung. Und der Buddha bestätigt, dass solche Merkmale oder Vorstellungen Indikatoren der Vertiefung und Läuterung seien. Das zeigt, dass es sich hier um Meditationsbahnen handelt, die im Hausleben in der Regel nicht zugänglich sind, bestenfalls in Zeiten größerer Abgeschiedenheit.

Die erste Befreiung lautet:

"Sich selbst als formhaft empfindend, sieht man (als Außenwelt) nur noch Form."

Das heißt, dass man sich selbst als formhaft auffasst, also sich noch mit dem Körper identifiziert, dass man aber außen nur noch Formen sieht. Das bedeutet, dass einer, der diese Stufe erreicht hat, schon von der Sinnlichkeit vollkommen abgelöst ist. Wir erleben durch unsere sinnliche Wahrnehmung ja nicht nur Formen, sondern Formen und Gefühle als Ausdruck der jeweiligen angesprochenen Tendenzen, d.h. uns ist ein verwesender Leichnam ekelhaft und eine süße Speise köstlich. Ebenso geht es uns bei Tönen, Düften usw. Dass wir Formen mit Gefühl übergießen, das ist Sinnlichkeit, und diese hat einer, der die erste Befreiung gewonnen hat, überwunden. Darum sieht er außen nur noch ganz nüchtern Formen.

Normalerweise kennt der Mensch keine wirklichen "Formen". Er kennt nur von wahnhaften Geist zu Komplexen zusammengedachte und mit Namensetikett versehene Vielfaltsfetzen der fünf Sinnesfäden, welche Fetzen vermeintlich von einer "an sich" psychenunabhängig bestehenden "Außenwelt" kommen.

Zuerst wird dieser Anblick begrenzt sein, z.B. auf den feinstofflichen lichten "Astralleib", der im Fleischkörper wohnt, ohne dass man ihn normalerweise bemerkt. Oder man sieht eine Aura um den Körper herum oder um die Dinge, sieht also die Welt feiner, vergeistigter. Man sieht nur wenig oder kurz, sieht nur innerhalb der normalen Wahrnehmung etwas Feineres.

Die zweite Befreiung:

"Sich selbst als ohne Form begreifend, sind ihm alle Formen nur Außenwelt."

Das heißt, er fasst sich jetzt nicht mehr als formhaft auf, identifiziert sich nicht mehr mit dem Körper. Er hat - und das ist der Schritt zu der zweiten Befreiung - 1. durch seine Unabhängigkeit von der Außenwelt und 2. durch ständige aufmerksame Beobachtung bei sich erfahren, dass die Teile des Körpers ja ganz genauso nur Festes oder Flüssiges oder Hitziges oder Luftiges oder Gemischtes sind wie draußen in der Welt die Steine, das Holz, das Wasser und die Wolken. Er empfindet keinen Unterschied mehr zwischen Körper und Außenwelt. Dies ist nicht intellektuell zu verstehen, sondern zu erfahren.

Was bisher für eine Außenwelt angesehen wurde, die aus sich zu bestehen schien, entpuppt sich nun als eine karmische Ernte, die ständig vom Bewusstseinsstrom modifiziert und modelliert wird.

Die Erfahrung der ersten Befreiung muss vorausgegangen sein, von der Bedürftigkeit nach Sinneseindrücken muss der Erfahrer ganz frei geworden sein.

Die dritte Befreiung:

"Schönheit nur hat er im Sinn."

Dies bedeutet, dass ein solcher bei der Vorstellung vom Fortfall aller Formen und damit des gesamten Welterlebnisses empfindet: "Schön ist das, schön ist das."

Wer sich soweit entwickelt hat, der kann keine Form mehr als schön empfinden. Er hat ja ungezählte Male die weltlosen Entrückungen erfahren, in welcher keinerlei Form vorkommt. Diese sind Seligkeiten des Gefühls und im Laufe der Zeit entdeckt er u.a. ihre Schönheit auch darin, dass "dort" keine Form vorkommt. Diese Erfahrung pflanzt er sich ein, und damit kommt er zur negativen Bewertung aller äußeren Formen.

Schönheit ist etwas anderes als Schönes innerhalb der Vielfalt. Wahre Schönheit ist ohne unterscheidbare Dinge, in die die Vielfaltswahrnehmung zerbrochen ist. Wahre Schönheit ist das reine Herz, das selbstleuchtende Gemüt der Brahmas, unabhängig von jedem gebrochenen Licht der Vielfalt mit ihrer Sonne als "künstliches Licht".

Die vierte Befreiung:

"Durch die völlige Überwindung der Körperlichkeitswahrnehmungen, das Schwinden der Rückwirkwahrnehmung, das Nichterwägen der Vielheitswahrnehmung, gewinnt er in der Vorstellung: "Unendlich ist der Raum" das Gebiet der Raumunendlichkeit: dies ist die vierte Befreiung."

Die fünfte Befreiung:

"Durch die völlige Überwindung des Gebietes der Raumunendlichkeit aber gewinnt er in der Vorstellung "Unendlich ist das Bewusstsein" das Gebiet der Bewusstseinsunendlichkeit: dies ist die fünfte Befreiung."

Die sechste Befreiung:

"Durch völlige Überwindung des Gebietes der Bewusstseinsunendlichkeit gewinnt er in der Vorstellung "Nichts ist da" das Gebiet der Nichtsheit: dies ist die sechste Befreiung."

Die siebte Befreiung:

"Durch völlige Überwindung des Gebietes der Nichtsheit gewinnt er das Gebiet der Weder-Wahrnehmung-Noch-Nichtwahrnehmung: dies ist die siebente Befreiung."

Die achte Befreiung:

"Durch Überwindung des Gebietes der Weder-Wahrnehmung-Noch-Nichtwahrnehmung gewinnt er die Erlöschung von Wahrnehmung und Gefühl: dies ist die achte Befreiung."

Voraussetzung für diesen "Erlöschungszustand" ist die vollkommene Meisterschaft über die vorausgehenden sieben Befreiungen. Die achte Befreiung ist die Auflösung von Wahrnehmen und Fühlbarkeit (nirodha-samapatti).

Die achte Befreiung gehört somit nicht mehr zur Einigung, sondern zur Erlösung.

 

(Quelle: Hellmuth Hecker, Die Furt zum anderen Ufer;  Paul Debes: Wissen und Wandel 1996; Nyanatiloka: Buddhistisches Wörterbuch.)