Die geringe Aussicht, im Leidenskreislauf der Lehre des Erwachten zu begegnen.

(Anguttara Nikaya, I, 33)

 

Selten im Samsara, dem Leidenskreislauf der Wesen, bekommt ein Wesen die Lehre des Erwachten angeboten, und selten ist dieses Wesen so verständig, dass es die Lehre aufnehmen kann. Daraus ergibt sich, welch große Chance wir in der Gegenwart haben, in der uns die Lehre des Erwachten begegnet ist.

Gleichwie, ihr Mönche, es auf dieser indischen Erde nur wenige liebliche Gärten, Haine, Felder und Teiche gibt, aber bei weitem mehr Abhänge und Schluchten, schwer passierbare Flüsse, stoppeliges und dorniges Gelände und unwegsames Gebirge - ebenso gibt es nur wenige Wesen auf dem Land und bei weitem mehr im Wasser.

Das Wasser bedeckt ja zu zwei Drittel die Erde. Nur ein Drittel der Erde ist Land, und im Wasser können die Wesen übereinander leben in vielen Wasserschichten. Wir wissen, wie unendlich klein die Wesen im Wasser sein können. Alle Wasserwesen scheiden aus, um die Lehre zu verstehen,

...ebenso werden nur wenige Wesen unter den Menschen wiedergeboren und bei weitem mehr außerhalb des Menschentums; ebenso werden nur wenige Wesen in den mittleren Gegenden (Indiens) wiedergeboren,

dort, wo immer die Buddhas erscheinen. Der Erwachte sagt, dass die Buddhas immer in Indien erscheinen, weil dort die Menschen den charakterlichen Zuschnitt haben, der die Aufnahme seiner Lehre begünstigt.

Und bei weitem mehr in den Grenzgebieten unter unverständigen Barbaren; ebenso gibt es nur wenige Wesen, die verständig, sind, nicht stumpfsinnig, nicht taub oder stumm, und fähig sind, zwischen einer wohlgesprochenen und nicht wohlgesprochenen Rede zu unterscheiden; bei weitem mehr Wesen gibt es aber, die unverständig sind, stumfsinnig, taub oder stumm und unfähig, zwischen wohlgesprochener und nicht wohlgesprochener Rede zu unterscheiden.

Ebenso gibt es nur wenige Wesen, die das heilige Auge der Weisheit besitzen, und bei weitem mehr solche, die voll Wahn und Blendung sind.

Damit ist nicht gemeint, dass sie die Wahrheit von sich aus finden, sondern dass sie die heilende Wahrheit, die der Erwachte anbietet, verstehen können. Die Weisheit, die Fähigkeit, richtig zu denken, muss ausgebildet werden. Wenn sie diese Fähigkeit haben, dann geht es darum, ob sie einem Erwachten begegnen:

Ebenso bekommen nur wenige Wesen den Vollendeten zu sehen, und bei weitem mehr bekommen ihn nicht zu sehen; ebenso bekommen nur wenige Wesen die vom Vollendeten verkündete Lehre und Wegweisung zu hören, bei weitem mehr bekommen sie nicht zu hören.

Wir bekommen den Vollendeten nicht zu sehen und zu hören, aber wir haben den Vorzug, die Lehre gut überliefert kennen zu lernen.

Ebenso gibt es nur wenige Wesen, die die vernommene Lehre im Gedächtnis bewahren und bei weitem mehr solche, die sie nicht im Gedächtnis bewahren.

Wenn jemand die Hauptlehren des Erwachten so in seinem Gedächtnis bei sich hat, dass sie jederzeit bei allen seinen Gedanken mitsprechen und sein etwa falsches Denken sogleich korrigieren, dann ist die Ankunft der vom Lehrer vermittelten Lehre im Geist des Schülers vollendet, denn von nun an kann er sich selbst mit der bei sich eingeprägten Lehre beschäftigen.

Ebenso gibt es nur wenige Wesen, die bei den bewahrten Lehren den Sinn ergründen, und bei weitem mehr solche, die den Sinn nicht ergründen.

Der Hörer der Lehre hat die Möglichkeit - aber nur wenige nutzen diese Möglichkeit -, sein eigenes Erleben, sowohl das innen aufkommende Begehren und Hassen, Zuneigung und Abneigung, wie auch die ankommende Kette lebenslänglicher Wahrnehmungen, zu beobachten und nachzuprüfen, ob es sich damit so verhält, wie er gelernt hat. Dadurch erfährt und versteht der gründlich beobachtende und forschende Hörer nun selber, dass die wahrgenommenen Erscheinungen ganz und gar durch die im Inneren drängenden Kräfte von Anziehung und Abstoßung bedingt sind und dass er durch die Arbeit am eigenen Herzen die gesamten Erscheinungen, sein ganzes Leben, lenken kann und meistern kann in dem Maße seiner inneren Arbeit.

Ebenso gibt es nur wenige Wesen, welche die Lehre und ihren Sinn verstehen und der Lehre gemäß sich wandeln und umbilden; aber bei weitem mehr solche, die die Lehre und ihren Sinn nicht verstehen und sich der Lehre gemäß wandeln und umbilden.

Es gibt nur wenige Nachfolger, die alle früheren Denkweisen, Auffassungensweisen und Verhaltensweisen aufgeben, loslassen und eingehen lassen, bis sie ganz umgeschmolzen sind zu der Art, die den neuen Einsichten in allen Dingen entspricht.

Ebenso gibt es nur wenige Wesen, die bei ergreifenden Anlässen ergriffen werden, und bei weitem mehr, die dabei nicht ergriffen werden.

Anlässe zum Ergriffensein sind Geburt, Alter, Krankheit, Tod, selbstgewirktes Leiden und Betrachten dieser Zustände. Dadurch wird der Mensch bewegt, ergriffen, erschüttert und in dem Wissen, dass auch ihn das Leiden trifft, aufgerüttelt und motiviert in der Suche nach einem Ausweg. In Majjhima Nikaya 130 wird geschildert, wie der Richter der Toten, Yama, den aus dem Menschentum Abgeschiedenen, die untugendhaft waren, vorhält, dass sie in ihrem Erdenleben "die Götterboten" nicht beachtet hätten, von denen ihnen zahlreiche im Laufe des Lebens begegnet seien und sie gemahnt hätten. Götterboten seien: Die Geburt von Kindern wie auch Krankheiten, das Dahinwanken der Greise und endlich Todesfälle in ihrer Familie oder den Nachbarfamilien. Diese an das Jenseits erinnernden Erscheinungen hätten sie immer vor Augen gehabt, hätten sehen können, dass das Leben auf Erden nur kurz ist und dass ihm ja das andere Leben folgt, in dem der Mensch ernten wird, was er hier gesät hat. Diese ergreifenden Anlässe hätten sie nicht als Ansporn zur Läuterung genutzt. - Der Richter ist das eigenen Gedächtnis, das Gewissen, das den Menschen an sein vergangenes Wirken, an seine Unterlassungen erinnert.

Ebenso gibt es nur wenige Wesen, die, wenn ergriffen, weise kämpfen, und bei weitem mehr solche, die, wenn ergriffen, nicht weise kämpfen.

Menschen zum Beispiel, denen neue Perspektiven oder Perspektivlosigkeit aufgezeigt wird, merken bei sich ergriffen: "Das ist Freiheit. Unser Dasein ist wie Fesselung in einer Höhle." Aber wenn diese Menschen sich bald wieder den üblichen Alltagsinformationen hingeben, dann sind die seltenen Augenblicke umsonst gewesen oder zumindest wieder in den Hintergrund getreten.

Ebenso gibt es nur wenige Wesen, die, eifrig übend, Herzenseinigung, Herzensfrieden erreichen, und bei weitem mehr solche, die eifrig übend, Herzenseinigung, Herzensfrieden nicht erreichen.

Ebenso werden nur wenigen Wesen gute Speisen und Getränke zuteil, und bei weitem mehr wesen sind gute Speisen und Getränke versagt, und sie müssen ihr Leben mit Abfall und Erbetteltem fristen.

Ebenso gibt es nur wenige Wesen, denen der Wohlgeschmack der Lehre, der Wohlgeschmack ihres Sinns und der Wohlgeschmack der Erlösung zuteil wird, und bei weitem mehr Wesen wird er nicht zuteil. Darum, ihr Mönche, solltet ihr danach streben: "Den Wohlgeschmack der Lehre, den Wohlgeschmack des Sinns und den Wohlgeschmack der Erlösung wollen wir gewinnen!" Das, ihr Mönche, sei euer Streben.

Für den normalen Menschen verbindet sich mit dem Begriff "Wohlgeschmack" als erstes ganz unmittelbar die Vorstellung des Geschmacks köstlicher Speisen, den, wie der Erwachte sagt, nur wenige zu schmecken bekommen. Aber wir "schmecken" nicht nur mit dem Schmecker, dem Trieb in der Zunge, sondern auch mit den anderen Sinnesdrängen. So nennen wir auch die Zusammenstellung von manchen Formen und Farben "geschmackvoll", seien es die Bekleidung, die Möbel und Bilder in einem Raum, die Räume und Hallen in einem Haus, die Anlagen von Gärten und Parks.

Jeder normale Mensch kennt den Geschmack der Lust durch die fünf Sinnesdränge vom Kindesalter an. Er entsteht durch die Befriedigung oder die Erfüllung eines dem Menschen innewohnenden Verlangens nach bestimmten Formen, bestimmten Tönen, bestimmten Düften, Säften oder Tastungen. Wenn dieses Verlangen erfüllt wird, indem der Mensch erlebt und erlangt, was er verlangend begehrt und ersehnt, spürt er Befriedigung durch das Gefühl der Lust. Das ist der Wohlgeschmack der Lust.

Der Wohlgeschmack der Wahrheitsfindung, die Erkenntnis des Sinnes, ist ganz anderer Art als der Wohlgeschmack der Lust. Er entsteht durch die Befriedigung eines geistigen Bedürfnisses nach Wahrheit und Klarheit über das Leben und das Dasein. Den Wohlgeschmack der Wahrheitsfindung kennt jeder Nachfolger der Lehre, der beim Lesen der Lehrreden oder im Gespräch mit Gleichstrebenden oder in stiller, unbeirrter Beobachtung der geistigen Vorgänge zu tieferen Einsichten und Erkenntnissen über das Entstehen und Vergehen der geistigen Phänomene und der äußeren Erscheinungen kommt und der bei sich bemerkt, wie er durch diese Erkenntnisse zu einem immer umfassenderen Verständnis der dem gesamten Dasein zugrundeliegenden Struktur und Gesetzmäßigkeit kommet, wie er an Orientierung gewinnt und von daher immer deutlicher die Auswege sieht, die aus der Gebundenheit und Geworfenheit zur Befreiung führen. Der Erwachte spricht immer wieder von diesem Wohlgeschmack der Wahrheit, von der mit der Wahrheit verbundenen Freude. Der Erwachte bezeichnet es ausdrücklich als ein Kriterium des Stromeintritts (sotapatti), wenn der Heilsgänger bei der Darlegung der Lehre und der Wegweisung zum "Verständnis des Sinnes, zum Verständnis der Lehre, zum verständnisvollen Genuss der Lehre" gelangt.

Mit dem Wohlgeschmack der Erlösung ist das Erreichen des Nibbana gemeint, und der Erwachte schildert ihn als den Zustand des allerhöchsten, unübertrefflichen Wohls. Aber es gibt einen Vorgeschmack der Erlösung, der den Menschen eher zugänglich ist. Diesen Vorgeschmack kennt der Stromeingetretene, der bis zum Grund begriffen hat, dass die fünf Aneignungen, Zusammenhäufungen zwar dauernd bewegte und darum "lebendig" erscheinende, aber doch nur automatisch bewegte und geschobene, sich gegenseitige bedingende, in dauerndem Wechsel und Wandel befindliche Erscheinungen sind.

Davon mehr und mehr zurückzutreten, abzulassen bis zur völligen Auflösung aller Triebe und damit zum Wohlgeschmack der Erlösung - das erreichen doch nur sehr, sehr wenige Wesen, diesen höchsten Wohlgeschmack, dieses höchste Wohl.

Gleichwie, ihr Mönche, es auf dieser indischen Erde nur wenige liebliche Gärten, Haine, Felder und Teiche gibt, aber bei weitem mehr Abhänge und Schluchten, schwer passierbare Flüsse, stoppeliges und dorniges Gelände und unwegsames Gebirge -

ebenso gibt es nur wenige Wesen, die, als Menschen abscheidend, unter den Menschen und Himmelswesen wiedergeboren werden, und bei weitem mehr Wesen gibt es, die, als Menschen abscheidend, in einer Hölle wiedergeboren werden, in tierischem Schoß oder im Gespensterreich;

ebenso gibt es nur wenige Wesen, die , als Himmelswesen abscheidend, unter den Himmelswesen oder Menschen wiedergeboren werden, und bei weitem mehr gibt es, die, als Himmelswesen abscheidend, in einer Hölle wiedergeboren werden, in tierischem Schoß oder im Gespensterreich:

ebenso gibt es nur wenige Wesen, die, aus der Hölle, dem Tierschoß oder dem Gespensterreich abscheidend, unter den Menschen oder den Himmelswesen wiedergeboren werden, und bei weitem mehr gibt es, die, aus der Hölle, dem Tierschoß oder dem Gespensterreich abscheidend, eben dort wiedergeboren werden.

Die Wesen streben natürlich nicht bewusst z.B. die Hölle an. Kein Wesen strebt bewusst Leidensstätten an. Sie haben bewusst die Erfüllung ihrer Wünsche angestrebt, ohne auf die Wünsche und Interessen anderer Rücksicht zu nehmen, aber sie wissen nicht, dass sie damit gerade auf Leidensstätten zugehen. Die allermeisten Menschen haben kaum Kenntnis von dem Saat-Ernte-Gesetz und sind darum von geringer Moralität, und so werden sie nach dem Tod nicht wieder als Mensch wiedergeboren, sondern in untermenschlichen Bereichen.

Aus den Berichten der Religionen geht hervor, dass entsprechend unserem Wirken die Ernte sich im Jenseits ansammelt, die uns, wenn wir den grobstofflichen Körper verlassen haben, im feinstofflichen Körper und Bereich erreicht.

Wenige Menschen werden als Himmelswesen abscheidend, unter den Himmelswesen oder Menschen wiedergeboren...

Zusammenfassend sagt der Erwachte (Anguttara Nikaya III, 115):

Wegen rechten Handelns, guter Herzenseigenschaften und rechter Anschauung gelangen da die Wesen bei Versagen des Körpers nach dem Tod auf eine gute Lebensbahn, in himmlische Welt.

Aber auch der Aufenthalt in den höchsten Himmeln ist vergänglich, wenn auch oft erst nach Weltzeitaltern. So begehrenswert eine Wiedergeburt in der Himmelswelt für den normalen Menschen sein mag, dem Tieferblickenden kann auch eine solche Wiedergeburt nicht genügen, denn auch alle Himmelswelten unterliegen dem Daseinswandel.  Auch die Wesen, die zeitweilig himmlisches Dasein erlange, werden, wenn ihre Lebensdauer abgelaufen ist, weil der Schatz ihrer Verdienste aufgebraucht ist, wieder in den Strudel des Kreislaufs der Wiedergeburten hineingerissen, und die meisten sinken abwärts, weil sie, in den Himmelswelten dem Genuss hingegeben, sich nicht neu um Erhellung ihres Charakters bemüht haben.

Die Untermenschenwelt ist die Existenzweise, die aus einem Wirken hervorgeht, bei dem der Durst ungebrochen und hemmungslos regiert, so dass das Wesen entsprechend seinem erbarmungslosen Wirken keinerlei Erbarmen findet, sondern nur Schmerz erleiden muss. Eine jede über die Hölle hinausreichende Existenzform - und sei es als Gespenst - ist mit einer relativen Minderung des Leidens ausschließlich durch Minderung des Durstes, der Selbstsucht zu einer Zeit entstanden, in der bewertendes Denken möglich ist. Darauf beruht die Chance, dass ein aus Höllendasein Aufgestiegener, dessen "übles Wirken erschöpft ist" , sich auf die Dauer wieder hocharbeiten kann.

Der normale unbelehrte Mensch steht immer in der Gefahr, nach unten abzusinken und muss ständig mehr oder weniger kämpfen, um sich durch Tugend "über Wasser" zu halten. Der Erwachte vergleicht dies ausdrücklich mit einem Schwimmer: Will er nicht untersinken, muss er sich anstrengen. Und geht er unter, so geschieht das genau so lange und so tief, wie es der Wucht seines Sinkens und dem spezifischen Gewicht entspricht, zu dem der sich durch sein Wirken entwickelt hat.

Nach einem Artikel von Paul Debes in "Wissen und Wandel 2010".