Nach einem Artikel von Paul Debes, WW 1958

 

Der Buddha war Empiriker in der tiefsten Bedeutung dieses Wortes. Es galt für ihn nur die Erfahrung. Aber seine Erfahrung und die aller Religionsgründer reicht unendlich weit über den Bereich der sinnlichen Erfahrung hinaus, darum kommen sie ohne Spekulation aus.

 

Der Buddhismus ist keine Religion in unserem abendländischen Sinne, sondern mehr eine Wissenschaft. Der Buddha hat den Menschen erforscht am einzig möglichen "Objekt", an sich selbst. Er ist dabei in unerforschte Bereiche vorgedrungen, vergleichbar mit einem Naturforscher, der im Dschungel eine völlig überwucherte, verborgene alte wunderbare Stadt wieder entdeckt. 

Er zeigte anschließend den Weg zu dieser alten Stadt, nichts weiter! Von jedem einzelnen hängt es ab, ob er den Weg gehen kann und will oder nicht. Ob der Weg der richtige ist, der zum ewigen Wohl führt, kann nur der wissen, der ihn zu Ende gegangen ist. Aber viele seiner Zeitgenossen haben bezeugt, dass er wirklich zum Ziel führt.

Nach vielen Jahrtausenden, so heißt es, wird diese Stadt wieder überwuchert und für die Menschen nicht mehr zugänglich sein. Danach aber wird irgendwann nach sehr langen Zeiträumen wieder ein  Buddha erscheinen. So wie unser Buddha auch sieben Buddhas namentlich genannt hat, die vor ihm erschienen waren.

Buddha heißt zu deutsch: der Erwachte. Als er sich nach dem Erwachen entschloss, seine Lehre zu verkünden, hatte er nach seinem Verständnis ein vollkommenes Wissen über die Existenz, er hatte ja die alte Stadt gefunden. Er erinnerte sich an eigene unzählige verschiedene frühere Daseinsformen, ein Anfang war dabei nicht zu erkennen, d.h. es gibt keinen "ersten Anfang" der Existenz, so wie unsere Naturwissenschaft ihn sucht. 

Das zweite Wissen, welches er erlangt hatte, war, dass er auch bei allen anderen Wesen erkannte, wie sie je nach dem Wirken (karma) wiederkehren und dahinschwinden.

Das dritte Wissen, welches ihm aufgegangen war, war, dass er die "Einflüsse" (asava), die Triebe und die Verletzlichkeit des menschlichen Herzens erkannte und damit auch die Vier Edlen Wahrheiten vom Leiden (dukkha). 

All dies ist tiefschichtiger, als es in einfachen Leifäden über "Buddhismus" zumeist nur beschrieben wird.

So hatte der Buddha unter anderem auch erkannt, was geniale Physiker des vorigen Jahrhunderts wie Heisenberg und Einstein entdeckten, nämlich dass "der Kosmos nichts unabhängig von uns Existierendes ist", bzw. dass sich sagen lässt, "dass jedes Ding aus dem und nur aus dem - besteht, was wir an ihm erleben".  Der Physiker N. David Mermin (geb. 1935) drückte es scherzhaft so aus: "Wir wissen heute, dass der Mond nachweislich nicht vorhanden ist, wenn niemand hinsieht". 

Zu allen Zeiten wurden diejenigen, denen es gelang, durch die sinnliche Wahrnehmung hindurch zu schauen und die tieferen Zusammenhänge der Existenz zu erfahren, die "Weisen" genannt. In Indien gab es zur Zeit des Buddha und gibt es auch heute noch immer wieder Menschen, die mehr oder weniger tief durch die sinnliche Wahrnehmung hindurch existentielle Hintergründe und Untergründe erhellten, also Weise der verschiedenen Grade. Und weil sie alle aus der gleichen Quelle trinken, aus der Erfahrung, darum ist ihre Aussage in dem gleichen Grade übereinstimmend. Und darum konnte der Buddha sagen:

"Wovon andere Weise sagen `das ist`, davon sage auch ich `das ist`. Und wovon andere Weise sagen `das ist nicht`, davon sage auch ich `das ist nicht`."

Die Lehrreden des Buddha sind erfüllt von Berichten über seine geistige Erfahrung und über die Wege, die ihn dahin führten und von Wegweisungen für die Nachfolger, um zu den gleichen Zielen zu kommen.

Zu der Überlieferung des Theravada:

"Die uns überlieferten Reden des Buddha stellen den überragend größten Komplex unter allen religiösen Überlieferungen dar.

Der gründliche Kenner dieser Überlieferungsmasse gewinnt aus diesen tausenden von längeren, mittellangen und kurzen Reden den deutlichen Eindruck einer geschlossenen, in sich widerspruchsfreien, klaren Lehre über Struktur und Gesetz der Existenz, d.h. über Entstehen und Vergehen der Erlebnisse, durch welche wir uns als ein Ich in einer Welt mit erfreulichen und schmerzlichen Erlebnissen vorfinden.

So wie ein Erdatlas in vielerlei Landkarten, Meereskarten unterschiedlichster Maßstäbe immer über dieselbe Erde Auskunft gibt, manchmal mit kleinstem Maßstab das Gesamtbild der Erde liefert, dann wieder mit großem Maßstab ein Gebirge oder eine Stadt allein in ihren Einzelheiten aufzeigt, so dass das gründliche Studium des Atlanten zur vollständigen Erdoberfläche und der Meere führt — so auch bilden die uns überlieferten Reden des Buddha im Palikanon gleichsam einen Atlas der Existenz, der völlig ausreicht, um dem gründlich Studierenden eine vollständige Kenntnis von Struktur und Gesetz und Funktion  der Existenz zu vermitteln, und zwar so weit, dass er, wenn er die den Lehrreden immanente Wegweisung für die eigene Selbsterziehung befolgt, dann und dadurch auch von einem der Existenz und ihrer Funktion ausgelieferten Lebewesen zum Beherrscher der Existenz wird.

Nichtsdestoweniger ist die auf uns gekommene Überlieferung der Lehrreden des Buddha alles andere als etwa die vollständige Belehrung, die der Erwachte seinerzeit seinen Mönchen und Anhängern angedeihen ließ. Vielmehr drängt sich dem Kenner der gesamten Überlieferungsmasse immer  stärker auf, dass uns nur ein Bruchteil der gesamten Belehrung zur Verfügung steht.

Dieser Bruchteil ist aber, wie gesagt, dennoch völlig ausreichend, um daraus Struktur und Gesetz und Funktion der Existenz so erlernen zu können, dass man zur Beherrschung der Existenz und damit zur vollkommenen Freiheit kommen kann.

Viele Aussagen über bestimmt Entwicklungsabschnitte sind zahlreich vorhanden, weit mehr als nötig, von anderen Entwicklungsabschnitten hätte man über diesen oder jenen Punkt gern eine deutlichere, ausführlichere Anleitung, die aber nicht vorhanden ist.

So enthält der uns heute überlieferte Existenz-Atlas eine große Anzahl von Detailblättern doppelt, dreifach und vielfach, während wir über manche andere Einzelheiten der Existenz nur knappe Aussagen vorfinden. Dennoch reicht das Vorliegende dem ernsthaft suchenden Forscher, der die Bedeutung dieser Lehre erkennt, aus, den Heilsweg zu gehen. In dem Maße, wie er die Übungen nach der Wegweisung des Erwachten macht, in dem gleichen Maße erfährt er auch die verheißenden Ergebnisse an sich."

Die Umstellung von außen nach innen ist tatsächlich die erste von allen Religionen ausgehende Wirkung. Und unlöslich verbunden mit der Wendung der Blickrichtung nach innen ist der von der Religion ausgehende Aufruf zur Läuterung.

Nur durch die Verbesserung des inneren Seins, der Tendenzen, der Seele, des Herzens, kann auch besseres Erleben erwartet werden.

Der Erwachte sagt, dass es für den Menschen fünf Arten von Verlust und Gewinn gäbe:

1. Verlust oder Gewinn an Freundschaft oder Verwandtschaft.

2. Verlust oder Gewinn an Geld und Gut.

3. Verlust oder Gewinn an Gesundheit, Kraft und Anmut.

4. Verlust oder Gewinn an Tugend.

5. Verlust oder Gewinn an Weisheit.

Unter Tugend wird hier wie überall in den Religionen das aus einem guten Herzen, also aus gebesserten Tendenzen hervorgehende gute Verhalten in Worten und Werken verstanden, und unter Weisheit die tiefere Kenntnis der inneren Zusammenhänge innerhalb der Existenz, die den Menschen in den Stand setzt, sich vom Geworfenen zum Lenker der Existenz zu machen.

Von diesen fünf Gewinnen oder Verlusten sagt nun der Erwachte, dass die ersten drei Verluste, die der nach außen gewandte Mensch am meisten fürchtet, den Menschen nach dem Tode nicht auf schlechte Fährte, in Verderben und Unheil, also in dunkleres Dasein bringen, aber die Verluste an Tugend und Weisheit, die der nach außen gewandte Mensch am wenigsten fürchtet, den Menschen nach dem Tode auf schlechte Fährte, in Verderben und Unheil, also in dunkleres Dasein bringen. Und ebenso bewirken die drei ersteren Gewinne keine über dieses Leben hinausgehende Erleichterung, dagegen bewirkt der Gewinn an Tugend und der Gewinn an Weisheit auch für die folgende Existenz Erhellung und Erleichterung, und zwar in einem unvorstellbaren Maße.

Den ersten Anstoß zu der Einsicht, dass die Quellen alles Elendes und Leides wie auch von Wohl, Frieden und Heil nicht in der Welt, sondern im Menschen selber liegen, nennen die Religionsgründer die "geistige Geburt" oder "Wiedergeburt". Der Mensch, der diese Einsicht gewonnen hat, ist dadurch umgewandelt und neu ausgerichtet: Er richtet Forderungen nicht mehr an die Welt, sondern nur noch an sich selber. Er kritisiert und bemängelt nicht mehr das Draußen, sondern nur noch das Innen. So kann man sagen: Der religiöse Mensch ist nach innen gewandt, der unreligiöse nach außen.

Und weil die gründliche Unterweisung seitens des Erwachten den Menschen zu dieser entscheidenden Umwandlung, zu dieser Wiedergeburt führen kann, aus der im weiteren Verlauf der Entwicklung zunehmendes Heil hervorgeht, darum spricht der Erwachte von dem "Wunder der Unterweisung".

Aber der Weg ist ein allmählich fortschreitender Prozess, bei dem eine Anzahl von Etappen zu beachten sind, ähnlich wie bei einer Krankheit der Weg bis zur Gesundung eine allmähliche Entwicklung, ein Prozess ist, der über manche Etappen bis zur völligen Genesung verläuft.

Diese Etappen sind wie ein Weg durch einen überwucherten Dschungel, den der Buddha entdeckt und mitgeteilt hat. Im Samyutta Nikaya 12,65,19 sagt der Erwachte:

"Gerade so, ihr Bhikkhus, wie wenn ein Mann, in der Wildnis im Walde wandernd, eine alte Stadt erblickte, einen alten Weg, von Menschen früherer Zeit begangen. Und er folgt der Weg und ihm folgend erblickt er eine alte Stadt, eine alte Residenz, von Menschen früherer Zeit bewohnt, mit Gärten ausgestattet, mit Hainen ausgestattet, mit Teichen ausgestattet, mit Dämmen versehen, voll Anmut.

Und der Mann berichtete das dem Könige oder einem hohen Beamten des Königs: "Nimm gütigst Kenntnis, Herr! Ich erblickte in der Wildnis einen alten Weg, und ihm folgend eine alte Stadt, eine alte Residenz, von Menschen früherer Zeit bewohnt. Lasse, o Herr, diese Stadt wieder aufbauen!

Und es ließe, ihr Bhikkhus, der König die Stadt wieder aufbauen, und es wäre die Stadt in der Folgezeit reich und blühend, wohl bevölkert und gedrängt von Menschen, zu Wachstum und Gedeihen gekommen: Ganz ebenso, ihr Bhikkhus, erblickte ich eine alte Straße, einen alten Weg, von den Allbuddhas früherer Zeit begangen.

Und welcher war, ihr Bhikkhus, die alte Straße, der alte Weg, von den Allbuddhas früherer Zeit begangen? Es war dies der edle achtgliedrige Pfad, nämlich rechte Anschauung usw... (weiter folgt die Beschreibung des edlen achtfachen Pfades und des Bedingungsringes).

Nachdem ich das begriffen, lehrte ich es die Bhikkhus und die Bhikkhunis, die Laienbrüder und die Laienschwestern. Und es ist dieser heilige Wandel reich und blühend, weit verbreitet, vielen Menschen zu eigen, vermehrt, wohl verkündet unter Göttern und Menschen."