Niemand sei entmutigt, weil seine Erkenntnis erst gering ist, er soll lieber zusehen, sie durch jedes zu Gebote stehende Mittel zu erweitern. Mag sie gering sein oder größer, sie ist ein Funke, und mit einem Funken kann man ein etwas helleres Licht entzünden und damit den Weg verfolgen.

(Marco Pallis)

Niemand sollte sich gering schätzen, weil er nach eigener Einschätzung vielleicht nicht sehr viel von der Lehre verstanden hat oder in der meditativen Praxis kein Weiterkommen sieht.

Im Gegenteil: Bescheidenheit ist eine Tugend und es liegt für jeden, der den buddhistischen Weg beschreitet, eine Gefahr in Selbstüberschätzung und in einer eigensüchtigen Benutzung der Lehre für den Geltungsdrang.

Den wichtigsten Hinweis finden wir im Patimokkha, dem ältesten Dokument der Sittlichkeitsregeln,  Erlassen zum Erhalt des buddhistischen Sangha. Dort werden am Anfang die vier Parajika-Vergehen aufgeführt, die zum Ausschluss eines Bhikkhu des Buddha aus dem Orden führen. Es geht um Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Mord und der Vorspiegelung übernatürlicher Fähigkeiten. Im Text heißt es:

Welcher Mönch ohne Kenntnis übermenschlicher Fähigkeit in bezug auf sich selbst Einsicht in das heilige Wissen vorgäbe, indem er sagt: "Solches weiß ich, solches erkenne ich", und der dann zu späterer Zeit, sei es gezwungenermaßen oder ohne Zwang... so spräche: "Nicht solches wissend, Brüder, sprach ich: Ich weiß...  leeren Unsinn plappernd". Wenn es Selbstbetrug durch Hochmut war, ist auch dessen Erlösungsstreben vereitelt; er ist ausgestoßen."

In der Mittleren Sammlung Nr. 22 wird vom Mönch Arittha berichtet, der die Auffassung vertrat, dass der Genuss der Sinnendinge nicht zwangsläufig zum Verderben gereichen würde. Die anderen Mönche traten geschlossen dagegen auf, indem sie zu ihm sagten: "Den Erhabenen verbessere nicht, nicht gut ist es, den Erhabenen zu verbessern. Nicht kann der Erhabene solches gesagt haben."

Und der Fall wurde schließlich dem Buddha dargelegt. Der Erhabene ließ den Bhikkhu zu sich rufen und befragte ihn: "Ist es wahr, wie man sagt, du habest die Anschauung gewonnen, dass die Pflege der vom Erhabenen als gefährlich bezeichneten Dinge nicht zwangsläufig gefährlich sein müsse?"

Hier sollte eingefügt werden, dass die intensive Pflege falscher Ansichten im Orden in großes Elend führen kann. Viel mehr als bei jemanden, der, wie die meisten von uns, im Berufs- und Familienleben steht und solche nur so nebenbei manchmal pflegen würde.

Arittha bestätigte dem Buddha gegenüber seine irrige Ansicht: "So ist es, o Herr, ich fasse die vom Erhabenen verkündete Lehre dahingehend auf, dass jene vom Erhabenen als verderblich bezeichneten Handlungen dem Täter nicht notwendig zum Verderben gereichen."

Und der Erhabene sprach zu ihm: "Von wem hast du Wirrkopf denn gehört, dass ich solches gelehrt hätte? Habe ich nicht mehrfach dargelegt, dass die Handlungen, die ich als verderblich bezeichne, dem Täter zum Verderben gereichen? Unbefriedigend sind die Sinnenfreuden, sie bringen viel  Leid und Unruhe mit sich, das Nachteilige überwiegt dabei. Die Bhikkhus haben dir schon gesagt, womit ich die Sinnenfreuden verglichen habe (Anm.: Ausführlich stehen die Vergleiche auch in Majjhima Nikaya 54). Infolge deines Missverständisses sagst du Falsches über uns. Das wird dir lange Zeit zum Unheil und Leiden gereichen..."

Nachdem er die anderen Bhikkhus befragt hatte und sich vergewissert hatte, dass sie die Lehre nicht so wie Arittha verstanden haben, sprach der Erhabene weiter:

" Manche unverständigen Leute lernen die Lehrsätze auswendig, erforschen aber nicht weise den Sinn. Dann gewähren die Lehrsätze  ihnen keine Einsicht. Sie erlernen sie nur, um darüber reden und Meinungen äußern zu können, aber den Zweck, zu dem man die Lehren lernt, begreifen sie nicht. Ihnen werden die falsch aufgegriffenen Lehren für lange Zeit zum Unheil und Leiden gereichen, weil sie sie falsch aufgegriffen haben.

Das ist so, wie wenn ein Mensch eine Schlange fangen möchte und eine große Schlange findet und sie am Leib oder am Schwanz greift; dann würde sich die Schlange umwenden und ihn in die Hand oder in den Arm oder in ein anderes Glied beißen, und er würde den Tod oder tödliche Schmerzen erleiden, weil er sie falsch aufgegriffen hat.

Verständige Leute lernen die Lehrsätze auswendig, dann erforschen sie weise den Sinn; darauf gewähren die Lehrsätze ihnen Einsicht. Sie erlernen sie nicht nur, um darüber reden und Meinungen äußern zu können, sondern begreifen den Zweck, zu dem man die Lehren lernt. Ihnen werden die richtig aufgegriffenen Lehren für lange Zeit zum Heil und Glück gereichen, weil sie sie richtig aufgegriffen haben.

Das ist so, wie wenn ein Mensch eine Schlange fangen möchte und eine große Schlange findet, sie mit einem ziegenfußartigen Stock festhält und sie dann mit festem Griff am Halse ergreift. Wenn dann die Schlange seine Hand oder seinen Arm oder ein anderes Glied mit ihrem Leib umringt, so erleidet er deswegen doch nicht den Tod oder tödliche Schmerzen, weil er sie richtig aufgegriffen hat.

Darum, meine Bhikkhus: Was ihr von meinen Reden versteht, das haltet fest; was ihr aber nicht versteht, das muss ich mit euch noch ausführlich durchsprechen (damit es wohl ausgebildete Bhikkhus gebe)."

Anlass für eine verharmlosende Ansicht über die vom Buddha als verderblich bezeichneten Dinge ist eben das sinnliche Vergnügen und Begehren. Es diktiert die Meinung, man könne sinnlich lieben, ohne zu leiden. Was der Erwachte über den Leidenscharakter, über das Elend der Begierden (in 10 Gleichnissen) sagt, übersieht man geflissentlich. Man will ihn insoweit verbessern.

Hinter der Genusssucht steckt ein Unverbindlich-Nehmen der Lehre. Man lernt sie nur, um anerkannt zu werden, um mit ihr zu glänzen, nicht um sich zu läutern. Das ist so, als ob man eine Schlange, die man fangen und abrichten will, falsch anfasst, so dass sie beißt.

Hinter der eigensüchtigen Benutzung der Lehre für den Geltungsdrang steckt das Sich-Identifizieren mit der Leidensmasse der fünf upadana-khandhas, der fünf Aneignungen, Zusammenhäufungen (siehe dortiges Kapitel). Wer solche Ich-Ansicht, selbst in feinster Form, hegt, muss beim notwendig eintretenden Wandel der 5 Aneignungen leiden, d.h. entgeht nicht dem Wehgefühl.

Es geht also um Tieferes und Stilleres. Durch die Unterweisungen in den Lehrreden etwas verstandesmäßig erfassen, ist ein wichtiger Fortschritt. Danach jedoch geht es um die aufmerksame Selbstbeobachtung, um ein "nach-Innen-Beobachten". Vielleicht erkennen wir dabei manchmal, dass da, wo wir "Ich" sagen und meinen, nur, wie Paul Debes machmal sagte, ein im Laufe des Samsara zusammengelesener Sack voll Triebe und Ansichten und Meinungen ist".

Man kann der Lehre nachfolgen, ganz ohne dass die Umgebung dadurch gestört wird und man sollte sich nicht selbst unter Druck setzen, etwas in einer bestimmten Zeit verstehen und anwenden zu müssen. Es kann ja sein, dass ich die Gefahr und die Schädlichkeit einer Handlungsweise verstanden habe, aber mich selbst noch nicht in der Lage sehe, danach zu handeln, da die Triebe sehr tief sitzen und lange Zeit, vielleicht auch in früheren Geburten, gepflegt worden sind. Wenn ein starker Geltungsdrang im Hintergrund aber, vereinfacht ausgedrückt, sagt: "Ich weiß etwas von der Lehre. Das kann aber nicht ganz so stimmen, denn es passt nicht in meine Lebensweise", dann ist das eine Gefahr.

Die Durchschauung des Menschen in seinem seelisch-körperlichen Funktionieren in buddhistischen Sinn geht nicht von heute auf morgen, sondern braucht Zeit. Es ist aber eine wichtige Voraussetzung für das rechte weitere Vorgehen in Bezug auf die Lehre.

Paul Debes schreibt (in ... beantwortet Fragen zu buddhistischer Anschauung und Lebensführung Bd. 1, Seite 185):

Es geht um die richtige Anschauung bei dem Bemühen um Minderung von als unheilsam Erkannten. Wir müssen wissen, dass alle Tendenzen nur daher entstanden sind, dass wir irgendein Objekt, nämlich das, worauf wir jetzt aus sind, einst positiv bewertet hatten. Dies Objekt kann auch eine innere Haltung betreffen, z.B Stolz, Geltungsdrang u.a. Wenn diese Eigenschaften positiv bewertet werden, dann ist mit diesem aufsaugenden Anblick, dass das schön oder gut sei, der Trieb etwas gemehrt worden. Wenn man aber weiß, dass man sich damit in Abhängigkeit, in die Gefangenschaft einer Bedürtigkeit begibt, und sich vor Augen führt - um beim Beispiel des Geltungsdranges zu bleiben -, was es denn sei, vor dem man gelten wolle, und dass alles in wenigen Jahren dahingerieselt ist, der Geltungsdrang aber gemehrt ist und dass man aus solchem Drang die Anerkennung des Nächsten versäumt und vor allem den rechten Anblick versäumt, dass nur das Gefühlsurteil der Triebe im Geist die Anschauung "Ich empfinde, ich will" und von daher "ich bin einer" und "ich bin mehr als andere" entstehen lassen - wenn man dies öfter bedenkt und es auch so sieht, dann löst man fast unmerklich falsche Anschauungen und unheilsame Haltungen und Bedürfnisse auf. Damit wird die Ich-Auffassung und zugleich die Empfindlichkeit dessen, das da ein Ich wähnt, gemindert.