Der Geist ist der sechste Sinn und eingebettet im nama-rupa, dem Psycho-Physischem, jener seelisch-geistigen und physischen Struktur, die wir als Persönlichkeit zu bezeichnen gewöhnt sind.

 

Der Körper entwickelt sich naturgesetzlich immer zuerst zu mehr Größe und Kraft und nimmt in der zweiten Lebenshälfte an Kraft wieder ab bis zum Untergang im sogenannten Tod.

Der gegenständliche, formhafte Körper wird von dem Wollenskörper (nama-kaya) durchzogen, ohne den das an seine Sinnesorgane gekommene nicht empfunden und benannt werden könnte. Zum Psychischen zählt das Herz mit seinen Trieben (siehe die Kapitel: "Herz" und "Wille") und der Geist (mano). Die Triebe (Wille) äußern sich in einem mehr oder weniger starken oder gar hinreißenden Drang zu etwas hin oder von etwas fort, sind ein unübersehbares Netz von Bezügen, von Spannungen des Habenwollens und Weghabenwollens, und die Tätigkeit des Geistes besteht im Vergleichen, Abwägen, Überlegen. Im Geist ist aus den gesamten bisherigen Erfahrungen durch "Im-Gedächtnis-behalten" (sati) eingetragen, was den verschiedenen Anliegen wohltut und was ihnen wehtut und wie das Wohltuende möglichst zu erreichen ist und wie das Schmerzliche möglichst vermieden werden kann.

Der Geist ist bei der Geburt noch leer an bewussten Inhalten, die dieses Körperleben betreffen. Er füllt sich von der Geburt an durch Sinneseindrücke (sehen, hören, riechen, schmecken, tasten) allmählich mit Wahrnehmungen und Erfahrungen und "weiß" von Jahr zu Jahr mehr (sati). Diese Zunahme von Erlebnissen und Erfahrungen setzt sich fort durch das ganze Leben bis zum Untergang des Körpers. Wir sehen von unserem Gedächtnis, dass es mit der Geburt angefangen hat und dass ein Fünfjähriger viel weniger erinnert als ein Zehnjähriger, dass aber ein Zwanzigjähriger und ein Sechzigjähriger unvergleichlich mehr erinnern.

Zugleich sehen wir das Gedächtnis auch wieder abnehmen. Die älteren Daten werden durch die neueren überdeckt, und nur wenige der älteren Daten sind noch greifbar. Die meisten Erlebnisse unserer Kindheit haben wir "vergessen".

Wie ein Heuhaufen dadurch entsteht, dass immer mehr Heu hinzukommt, so dass allmählich das unten liegende Heu weder gesehen noch getastet werden kann und nur jeweils die obere Schicht sichtbar ist, so auch wandelt sich das Gedächtnis ununterbrochen. Es nimmt aus der Gegenwart zu und aus der Vergangenheit ab. Darum also ist das Gedächtnis nichts Absolutes.

Es ist naheliegend, sich an die vom Erwachten erwähnte Tatsache der Rückerinnerung an vergangene Daseinsformen zu erinnern und darauf hinzuweisen, dass dann doch auch jetzt schon in unserem Gedächtnis diese vergangenen Daseinsformen enthalten sein müssen und dass darum der Säugling doch nicht mit einem vollkommen leeren Gedächtnis beginnen würde.

Diese Gedanken sind natürlich berechtigt, aber nichtsdestoweniger wissen wir ja von uns, dass wir uns weder als Säugling noch jetzt unserer vergangenen Daseinsformen erinnern können. Da aber bei fortschreitender Läuterung die Möglichkeit besteht, sich auch der früheren Leben zu erinnern, so müssen sie auch jetzt bereits im Gedächtnis sein. Wir haben sie aber ebenso vergessen, wie wir sogar die allermeisten Erlebnisse unseres gegenwärtigen Lebens vergessen haben. Sie stehen uns nicht mehr zur Verfügung.

So müssen wir also unterscheiden zwischen dem normalen Gedächtnis und dem gesamten Gedächtnisfundus, der unvergleichlich größer ist, aber erst zur Verfügung steht, wenn die üblichen menschlichen Normen überstiegen sind. Das heißt, wenn das Interesse an den sinnlich wahrnehmbaren Dingen abnimmt, wenn diese nicht mehr von der Aufmerksamkeit bevorzugt werden. Dann werden alle Gedächtnisinhalte immer mehr verfügbar.

Die Erfahrung des Geistes (sechster Sinn) wird in den Lehrreden des Erwachten in gleicher Weise wie die fünf Sinneserfahrungen aufgeführt. Aber es geht zu weit, zu sagen, so wie es z.B. der englische Philosoph Locke meint in Übereinstimmung mit Aristoteles: "Es ist nichts im Geist, das nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist." Richtig daran ist, dass die Erfahrungen der fünf Sinnesdränge an den Geist weitergereicht und dort gesammelt werden. Aber auch die gesamte geistige Erfahrung wird unmittelbar im Geist gewonnen: Wir können z.B. durch unmittelbare Selbstbeobachtung feststellen, wenn in uns Ärger, Traurigkeit, Freude oder Verlangen usw. ist. Zu dieser geistigen Erfahrung brauchen wir keinen der fünf Sinne - aber auch sie wird im Geist gesammelt.

Alles, was von den Sinnesdrängen erfahren wird, gelangt zum Geist, aber nicht alles, was im Geist ist, wurde nur von den Sinnesdrängen erfahren.

Man kann sich einen Kreis mit fünf Ausbuchtungen vorstellen. Jede Ausbuchtung bedeutet einen auf die Umwelt gerichteten Sinnesdrang. In der Mitte befindet sich der sechste Sinnesdrang, der Denker, der Geist. Er korrespondiert ununterbrochen in weitestem Sinne mit den fünf Sinnesdrängen. Jeder der fünf Sinnesdränge erfährt bei der Berührung Außendinge, beurteilt sie nach seinem Geschmack mit Wohl- oder Wehgefühl und reicht sie gefühlsbesetzt als Form-Wahrnehmung, Ton-Wahrnehmung usw.  dem Geist weiter. Der Geist hat keine Berührung mit außen, sondern empfängt das Außen nur durch die gefühlsbesetzten Erfahrungen der Sinnesdränge und kann außerdem innere Vorgänge beobachten und bedenken.

Weil also alle Wohl- und Wehe-Erfahrungen der fünf Sinnesdränge im Geist gesammelt und programmiert werden, so dass er allein die Wünsche der Sinnesdränge nach Wohlerfahrung und auch die Erfüllungsmöglichkeiten kennt, und weil nur er mittels der von ihm ausgebildeten programmierten Wohlsuche (vinnana-sota) den ganzen Körper bewegen und damit die Sinnesdränge an den Ort der Befriedigungsmöglichkeiten steuern kann, darum wird er als Fürsorger, Betreuer der fünf Sinnesdränge bezeichnet.

Körper (rupa), Psyche (nama) und Geist (mano) bestehen nicht unabhängig voneinander. Das Verhältnis ist ähnlich dem zwischen Handwerker und seinem Werkzeug. Auch er kann die gewünschte Tätigkeit nur so ausführen, wie es der Zustand des Werkzeugs zulässt - gut oder schlecht, oder gar nicht. Die Psyche ist das Primäre, der Schöpfer des Körperlichen, nicht umgekehrt. Wenn also Gehirnforscher beobachten, dass bei bestimmten kognitiven und emotionellen Prozessen eine Aktivierung genau lokalisierbarer Gehirnareale erfolgt, dann bedeutet das nicht, dass die grauen Zellen die Urheber dieses Verhaltens sind. Sie produzieren nicht Gefühle und Gedanken und ähnlicher Weise wie die Gallenblase Gallensaft erzeugt oder der Magen Magenflüssigkeit, sondern sie sind Mittler, Erfüllungsgehifen für die Psyche und den Geist, die nun einmal für die Handhabung des Körpers ein solches Schaltzentrum benötigt. Neurologen, die sich von einer materiellen Sichtweise beeinflussen lassen, suchen zwar schon lange nach dem Sitz des Bewusstseins im Zentralnervensystem, finden ihn aber nicht. Seriöse Gehirnforscher sprechen daher auch nicht von Bewusstseinserzeugung, sondern von neuronalen Korrelaten des Bewusstseins also von parallelen, das Bewusstsein begleitenden Erscheinungen in den Gehirnzellen. In diesem Sinne hat einer der angesehensten Neurophysiologen, Sir John Eccles, der für seine Erforschungen der Gehirntätigkeit den Nobelpreis erhielt, viele Publikationen über den Unterschied zwischen dem Gehirn als ausführendem Organ und dem veranlassenden Selbst vorgelegt, z. B. auf deutsch: "Wie das Selbst sein Gehirn steuert", München 1996.

So wie durch das triebbesetzte Auge Formen erfahren werden, so werden durch den Geist Dinge erfahren. Indem die Triebe die Sinneseindrücke erfahren, übergießen sie sie mit Gefühl. Die gefühlsbesetzten Eindrücke gelangen in den Geist, und dieser deutet sie sofort mit seiner bisherigen Erfahrung und benennt sie. So entsteht Dingwahrnehmung durch die Tätigkeit des sechsten Sinnes, des Geistes. Unter "Ding" wird alles das verstanden, dem das Gedächtnis einen Sinn und somit einen Namen gibt. Wenn wir z.B. bei einem Gang durch die Landschaft auf der Weide ein Rind sehen und es brüllen hören, dann ist die Weide wie das Rind für uns ein Ding, ein sinnvoller Gegenstand bzw. Lebewesen. Wir haben sofort gewisse Vorstellungen und Begriffe, wenn wir an "Weide" und an "Rind" denken. Die Sinne selber aber haben keine Weide und kein Rind wahrgenommen. Durch das triebbesetzte Auge (Luger) ist nur eine große grüne Fläche wahrgenommen worden, auf welcher sich ein schwarz-weißer oder rot-weißer waagrechter Fleck hin und her bewegt. Durch den Lauscher (triebbesetztes Ohr) wurden zusätzlich Töne erfahren. Diese Sinneseindrücke wurden sogleich von den innewohnenden Sinnesdrängen abgetastet und gelangen als Wahrnehmung in den Geist, der die Sinneseindrücke benennt: "Das ist ein brüllendes Rind auf der Weide."

Im Geiste findet eine Denkbewegung statt, und zwar als Erwägen (Überlegen) und Sinnen (Betrachten nach dem Entscheiden). Erwägen und Sinnen gestalten sowohl die innere als auch die äußere Sprache, das Mienenspiel, die Gebärden und Handlungen. Erwägen und Sinnen als Denkformen, als gedanklich - geistige Gestaltung, kommen zu Wort, melden sich zu Wort, haben etwas zu sagen - uns selbst und anderen.

Jeder Versuch, Erwägen und Sinnen im wachen Zustand einzustellen, führt zu der Erfahrung, dass das kaum zu erreichen ist. Mit besonderen Übungen kann man das Denken ein paar Sekunden oder ein paar Minuten einstellen, aber anschließend strömt es dann um so stärker. Die programmierte Wohlerfahrungssuche (Bewusstsein, Pali: vinnana) ist unmittelbar bedingt durch diese denkerische Bewegtheit, durch Wiederholung und Einspielung denkerischer Abläufe. Immer, wenn das Überlegen zu einem Ergebnis kommt, zu einer Entscheidung, zu einem Entschluss, dann sinnt das Denken erst einmal in dieser Richtung und assoziiert Dazugehöriges: Aha, so muss man es also machen (Gegenwart), so ist es auch damals von mir oder anderen gemacht worden oder so muss ich das Frühere korrigieren und variieren (Vergangenheit), so muss man also weitermachen, so etwas verbessern, solche Fragen einkalkulieren (Zukunft).

Ausnahmsweise gibt es auch ein Sinnen ohne Erwägen, auf der Höhe der ersten Entrückung (siehe dortiges Kapitel). Sowohl Erwägen als auch Sinnen enden auf jeden Fall auf der Höhe der zweiten Entrückung.

Schopenhauer hat das Verhältnis des "Willens" zum Geist dargestellt in dem Bild eines starken Blinden (für den Triebwillen), der sich einem Lahmen, aber Sehenden (den bewussten Geist, der aber keine Kräfte hat) auf seine Schultern lädt, damit dieser ihn zu den angenehmen Erlebnissen hin- und von den unangenehmen wegführe. Damit kam Schopenhauer der Lehre des Erwachten nahe. Er kannte das meiste, was damals in Europa von ihr bekannt war.

Der Erwachte lehrt nicht nur, wie dieses Verhältnis des blinden Riesen zum lahmen Seher zustande kommt, sondern auch, unter welchen Einflüssen es allmählich in bester und harmonischster Weise weiterentwickelt werden kann, indem der sehende Geist von einem anfänglich Hörigen allmählich zum Berater des blinden Riesen, dann zu dessen Erzieher und Bildner wird, bis der Riese gebändigt und sanft und edel geworden ist, und wie dabei der Seher allmählich seine Lahmheit verliert und zuletzt als die Weisheit die Führung übernimmt. Aber der Erwachte erklärt nicht nur die Bedingungen dieser Entwicklung, sondern erzeugt sie mit seiner Lehre: Durch die Erarbeitung dieser Lehre gelangt in den Geist, den anfänglich noch "lahmen Seher", die Kenntnis von der Hilflosigkeit des blinden Riesen und seiner Bildsamkeit durch den Geist, die Kenntnis von den entsetzlichen Gefahren und Leiden verdorbener wüster Tendenzen und von dem unermesslichen Segen eines gereinigten, wohlgebildeten Herzens. Diese Kenntnis entwickelt den Geist langsam, aber sicher vom Hörigen zum Lenker und Bildner der blinden Tendenzen.

Der Geist, der im Anfang beim Erscheinen des Menschen noch am wenigsten "da" zu sein scheint, ist berufen, eben der "Seher" zu werden in jener Körper-Herz-Geist-Komposition, die als "Mensch" bezeichnet wird.

 

Literatur/Quellen: Paul Debes: Meisterung der Existenz.... , Hellmuth Hecker: Die Furt zum anderen Ufer, Heinz Reißmüller: Die ursprüngliche Lehre des Buddha und die moderne Naturwissenschaft.