Herzensgeneigtheiten im Menschen sind Zwänge, innewohnende Dränge, die je nach den äußeren Eindrücken aufkommen. Das Paliwort (anusaya) bedeutet wörtlich: Anliegen.

 

Diese sieben Geneigtheiten, die der Erwachte in der 18ten Lehrrede der Mittleren Sammlung nennt, bewegen uns geradezu ununterbrochen. Es sind zwar unbewusste Geneigtheiten, latente Triebe, aber in jedem Augenblick, bei jeder sinnlichen Wahrnehmung, das heißt bei jeder gesehenen Form, bei allen gehörten Tönen, gerochenen Düften usw. und bei aufkommenden Gedanken steigen diese latenten Geneigtheiten als Wollen in uns auf, beunruhigen uns, reißen uns hin und her und veranlassen mancherlei Unternehmungen, durch welche aber die Probleme nicht gelöst, sondern nur noch verstärkt werden.

1. Giergeneigtheit (raganusaya)

Wenn ein Erlebnis Wohlgefühl auslöst, weil es den Trieben entspricht, so kommt unmittelbar Zuwendung, Zuneigung auf zu dem Inhalt des Erlebnisses, der betreffenden Person oder Sache.

2. Abwehrgeneigtheit (patighanusaya)

Wenn etwas mit Wehgefühl erlebt wird, weil es den Trieben widerspricht, so kommt je nach Art der Sache und der Veranlagung des Betreffenden Enttäuschung, Langeweile, Verdruss, Ekel, Wut, Neid auf, im Tatbereich führen diese Gefühlformen zu spontanen Aktionen mit dem Körper bis hin zu Blutvergießen, Krieg und Zwietracht.

3. Ansichtsgeneigtheit (ditthanusaya)

Die Ansichtsgeneigheit gehört zur Blendung des Menschen. So sehen wir in einer ersten Einteilung die drei großen Grundkrankheiten des menschlichen Herzens in den ersten drei Geneigtheiten (Gier, Hass, Blendung).

Der Mensch bedarf der orientierenden Betrachtung, um die begehrten Dinge zu suchen und den gehassten Dingen auszuweichen. Wegen des Andrangs der Wahrnehmungen entwickelt sich das Bild einer Umwelt und es wird Orientierung gewünscht. Diese kommt also zustande wegen der ersten beiden Geneigtheiten. Aber jede Orientierung ist nur in ihrem allerkleinsten Rahmen gültig. Je weiter der Mensch den Rahmen zieht, das heißt je weiter er Folgerungen aus solcher Orientierung zieht, um so mehr kommt er zu Widersprüchen, zu Unsicherheit, zur Ungewissheit und damit zur vierten Geneigtheit:

4. Unsicherheitsgeneigtheit (vicikicchanusaya)

Diese Geneigheit ist letztlich bedingt durch die dritte Geneigtheit zur Orientierung, zur Bildung von Anschauung, welche Geneigtheit wiederrum bedingt ist durch die beiden ersten. Diese Anwandlung von Unsicherheit über dieses Dasein und die Undurchschaubarkeit der Welt kennt der Mensch, der seinen vordergründigen Interessen nachgeht, weit weniger als der Denker.

5. Dünken-Geneigtsein (mananusaya)

Wörtlich übersetzt heißt es: "Geneigtheit zum Vermeinen". Es ist die dem Menschen innewohnende Geneigtheit "ich bin" zu denken und zu empfinden, die ihre Wurzel in der Gesamtheit seiner Triebe, Tendenzen, Verstrickungen hat. Durch die Akte der sinnlichen Wahrnehmung werden die Triebe ununterbrochen berührt, und es geht von ihnen ebenso ununterbrochen ein Gefühl aus, das dem Verhältnis der Triebe zu dem jeweils zur Berührung gekommenen entspricht: Wohlgefühl, Wehgefühl, neutrales Gefühl. Diese Gefühle nimmt der Mensch in laufender Folge wahr, so dass er den Eindruck gewinnt, er selber sei der Erleber dieser sinnlichen Wahrnehmungen. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennnen, dass lediglich die Resonanz der Triebe die Gefühle ausgelöst und die Wahrnehmung herbeigeführt hat, so dass man eher von einer Wahrnehmung seitens der Triebe sprechen könnte.

Das ist also die Geneigtheit zum Vermeinen. Es ist die nicht durchschaute "Ich-bin"- Empfindung. Je stärker der Menschen von den Dingen fasziniert ist, um so stärker ist das Ich-bin-Gefühl.

6. Geneigheit zum Daseinwollen (bhavaraganusaya)

Um diese sechste Geneigheit in ihrem Wesen verstehen zu können, müssen wir bedenken, dass alle Geneigtheiten nur unter dem Einfluss der Lehre des Erwachten aufgelöst werden können. Nur wer begriffen und bei sich selbst durchschaut hat, dass das Ganze, das uns als "Ich und Welt" und "Dasein" in allen Formen, als "Kosmos", als "Universum" erscheit, aus fünf Zusammenhäufungen besteht, die aus Blendung und Wahn nur immer weiter zusammengehäuft werden - nur bei dem beginnt nun eine Abnahme dieser Geneigtheiten. Erst die Abnahme der ersten fünf Geneigtheiten macht die Durchschauaung der sechsten, der Geneigtheit zum Daseinwollen, möglich.

Zuerst und am stärksten nehmen bei dem von einem Erwachten Aufgeklärten die Geneigtheiten zur Ansichtsbildung und zur Ungewissheit ab. Das sind die ersten beiden der Verstrickungen (Fesseln), die der in den Strom eingetretene (sotapanno) endgültig abgetan hat. Wer begriffen hat, dass da, wo er immer glaubte, ein Ich in der Welt zu erleben, eben nur fünf Zusammenhäufungen erscheinen, der will sich in dieser Welt nicht mehr orientieren, denn er erkennt sie als Phantomerscheinungen und hat begriffen, dass die Begegnungswahrnehmungen durch Nicht-mehr-eingreifen allmählich verblassen. Da er sich dadurch keine Ansichten mehr bildet, sondern nur die rechte Anschauung pflegt und mehrt, so kann keinerlei Ungewissheit mehr aufkommen. Das Gefühl der Ungeborgenheit in der Welt besteht bei solchen nicht mehr.

Auf diesem Weg haben die erste und zweite Geneigtheit ebenfalls schon erheblich abgenommen., denn sie bestehen ja gerade darin, dass man zu den verschiedenartigen Welterscheinungen, zu den Begegnungen des alltäglichen Lebens mehr oder weniger starke Beziehungen hat.

Diese wachsende Haltung des Loslassens bedeutet auch, dass die Triebe des Herzens immer stärker abnehmen, dass also der Wollenskörper, der Empfindungssuchtkörper, der Resonanzboden im Fleischkörper, immer schwächer wird und dadurch weniger Gefühl ausstößt. So nimmt auch das "Ich-bin" Empfinden, die fünfte Geneigtheit, immer mehr ab. Ein solcher weiß: Alles Erlebte ist Vorstellung, und Vorstellung ist Wahn.

Damit wird der sechsten Geneigheit zum Daseinwollen der Boden entzogen. Die Geneigtheit zum Daseinwollen wohnt jedem Wesen am stärksten inne: Jedem Tier, jedem Geist der Unterwelten, jedem Menschen und jeder Gottheit. Die gesamten sieben Geneigtheiten wurzeln letztlich alle in der Geneigtheit zum Daseinwollen. Aber diese Geneigtheit zum Daseinwollen kann nicht vom ersten Anfang an in Angriff genommen werden, dazu ist dieser Komplex zu groß. Es wäre so, wie wenn ein Mann mit einem Spaten den Himalaya abgraben wollte. Darum hat der Erwachte einen Weg des Abschichtens genannt, bei welchem man Schritt für Schritt vorwärts kommt. Diese Schritte bestehen in der Minderung und teilweisen Auflösung der genannten ersten fünf Geneigtheiten.

7. Wahngeneigtheit (avijjanusaya)

Wir sehen, dass die letzte der sieben Geneigtheiten, die Wahngeneigtheit, unlöslich mit der sechsten Geneigtheit verbunden ist. Denn diesen selbstgewirkten Andrang der Wahrnehmungen, die Dasein vortäuschen, für wahres Dasein anzusehen - das ist ja Wahngeneigtheit. Die selbstgewirkten Wahrnehmungen, die selbstgewirkten Bilder und Gefühle als von einer Welt herkommend ansehen, ernst zu nehmen und darauf zu reagieren, das ist Daseinsgeneigtheit und Wahngeneigtheit, ist Festhalten an der Wahnvorstellung "Dasein" und verhindert Erwachung.

Alle Streitformen, alle Formen von Disharmonie gehen hervor aus den sieben Geneigtheiten. Erst wenn diese nicht mehr sind, dann werden üble, unheilsame Dinge restlos verschwinden und der Friede breitet sich immer mehr aus.

 

Quelle: Paul Debes, Begriffe der Buddha-Reden mit Erklärung