Gibt es im Buddhismus Raum für Gnade?

 

Die Frage, ob es im Buddhismus Raum für Gnade gebe, würde man auf den ersten Blick, ohne viel nachzudenken, verneinen. In der christlichen Theologie zwar ist die göttliche Gnade ein zentraler Begriff. Allgemein versteht man unter Gnade eine wohlwollende, freiwillige Zuwendung. Aber im Buddhismus? Wie könnte ein Akt des Erbarmens, der dem Menschen unabhängig von eigenem Bemühen unaufgefordert geschenkt wird, mit der unbeugsamen Ordnung vom Karma und seinen Früchten in Einklang gebracht werden?

Beginnen wir mit einer näheren Betrachtung dazu mit einer Stelle aus dem Pali-Kanon (Udana VIII, 3):

"Es gibt, ihr Mönche, ein Ungeborenes, Ungewordenes, Nichtgeschaffenes, Nichtzusammengefügtes; gäbe es, ihr Mönche, dieses Ungeborene, Ungewordene, Nichtgeschaffene, Nichtzusammengefügte nicht, dann gäbe es kein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Zusammengefügten. Weil es das Ungeborene, Ungewordene, Nichtgeschaffene, Nichtzusammengefügte aber gibt, gibt es auch ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Zusammengefügten."

Ein Mysterium ist die Frage, wie es kommt, dass uns ein Buddha erscheint und uns davon berichtet, denn das haben wir ja nach dem Karmagesetz auch selbst geschaffen. Wieso aber sind wir dann nicht längst erwacht bzw. erleuchtet?

Hierbei wird mir klar, dass meine erste geistige Inspiration der Buddha-Lehre von dem Zen-Meister Dogen Kigen (1200-1253) stammt. Er war sozusagen mein erster "Guru-ji". Und ihn trieb interessanterweise genau diese Frage um. Im damaligen Japan lehrten beide dortigen buddhistischen Schulen, die exoterische und die esoterische, dass alle Lebewesen die Buddha-Natur und die ursprüngliche Erleuchtung schon haben. Wenn dem so ist, warum erwecken dann alle Buddhas durch Übung den Buddha-suchenden Geist und das Verlangen nach Erleuchtung?

Viele Buddhisten haben eine ähnliche Erfahrung gemacht. Irgend ein Punkt in der Buddha-Lehre bringt sie "auf den Weg". Es ist nicht zu weit hergeholt, hier von einer "Tätigkeit der Erleuchtung" zu sprechen, die wie eine Gnade wirkt.

Der anziehende Einfluss der Erleuchtung/Erwachung, der quasi als gnadenhafte Ausstrahlung erfahren werden kann, trifft das menschliche Bewusstsein auf dreierlei Weise, was etwa folgendermaßen beschrieben werden kann:

1. Aufforderung zur Erwachung

Diese Weise entspricht der "Umkehr", der Gabe des Glaubens. Es ist die Erfahrung eines unüberhörbaren Anrufes, den ein Mensch erfährt, sein religiöses Leben in eine Wirklichkeit zu verwandeln. Ehe nicht das "Erleuchtungs-Denken" (bodhi-citta) im Bewusstsein Raum gewonnen hat, kann man schwerlich behaupten, im buddhistischen Sinne "auf dem Weg" zu sein. Das Erwachen von Glauben und Vertrauen bleibt ein großes Geheimnis. Es ist, als wäre ohne ersichtliche Ursache ein Strahl gekommen und hätte in der Schale der Unwissenheit des Menschen einen ersten Einschnitt bewirkt; "die Buddha-Natur im Menschen verlangt nach Befreiung". Mehr lässt sich nicht sagen über etwas, das alle Überlegungen des gewöhnlichen Denkens vor Rätsel stellt.

2. Begleitung

Wenn im Leben eines Menschen der Anstoß zum "Weg" etwas Einmaliges ist, so sind die Gnadengaben, die im Verfolgen des Weges erfahren werden, vielfältig in dem Sinne, dass sie jenen ersten Anruf auf verschiedenen Stufen der geistigen Entwicklung wiederholen, in Gestalt von Anregungen, weiterzugehen, die eine oder andere Erfahrung zu vertiefen oder diese oder jene Ursachen der Ablenkung auszuschalten. Wir bekommen häufig völlig unerwartet kleine Denkanstöße und Hilfen aus allen möglichen Quellen.

Bei alledem ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass nicht "dieser eine bestimmte Mensch" Erleuchtung erlangt, sondern dass vielmehr Erwachen dadurch entsteht, dass der Traum, wir seien "der und der oder die und die", endet. Was das Wissen von Samsara anlangt, so muss jedem Ding sein zugehöriger Platz zugewiesen werden, nicht mehr und nicht weniger, einschließlich unserer eigenen Person.

3. Erinnern

Hier kann man eine gewisse Zahl von bezeichnenden Beispielen an "Gnadenmitteln" aufzählen, wie sie die Überlieferung in verschiedenerlei Form und im Hinblick auf verschiedenerlei Gebrauch anbietet. Sämtliche überlieferungstreuen Kulturen sind reich daran; ist man sich ihrer Existenz erst einmal bewusst geworden, lässt sich das Wirken der Gnade mittels dieser Formen leicht beobachten. Doch gibt es ein Beispiel, das als Erinnerung und Gnadenmittel ersten Ranges ganz besondere Aufmerksamkeit verdient: das ist das heilige Bild des Gesegneten, das in jedem Winkel der buddhistischen Welt und inzwischen auch anderswo anzutreffen ist.

Das Wirken eines Guru oder geistigen Meisters erinnert an den Buddha selbst. Doch der menschliche Guru ist nicht alles: Es kommt ein weiterer Guru in Betracht, diesmal ein innerer, dessen sichtbares Gegenstück der äußere Meister ist. Sein Name ist "Intellekt". Der Gebrauch des Wortes soll hier auf das intuitive Erkenntnisvermögen hindeuten, das dem Menschen innewohnt.

Noch einmal zurück zu dem Bild des Buddha, z.B. in der Geste der Erdberührung (bhumi-sparsa - siehe auch das Bild oben). In jedem Winkel der buddhistischen Welt kennt und liebt man dieses Bild. Wenn es eine symbolische Darstellung gibt, auf die das Wort "wunderbar" zutrifft, dann auf diese.

Deshalb sei zum Abschluss eine Stelle aus dem Buch "Vom Wesen heiliger Kunst in den Weltreligionen", von Titus Burckhardt angeführt, worin ein ganzes Kapitel dem heiligen überlieferten Buddhabild gewidmet ist:

" ... das heilige Abbild ist eine Kundgabe der Gnade des Buddha, ein Ausströmen seiner übermenschlichen Kraft. Wenn man den Gegenstand umfassend bedenkt, kann man erkennen, dass die beiden Aspekte des Buddhismus, die Lehre vom Karma und seiner Gnadennatur, untrennbar sind, denn die wahre Beschaffenheit der Welt darzutun bedeutet, über sie hinauszugehen; es bedeutet, die unwandelbaren Zustände kundzutun. Und es ist ein Bruch, der in der geschlossenen Ordnung des Werdens vollzogen wird. Dieser Bruch ist der Buddha selbst; seither vermittelt alles, was von Ihm kommt, das Einfließen von Bodhi."

Besser ließe sich das erleuchtende Wirken des heiligen Abbildes nicht zum Ausdruck bringen.