Die
sechs Klippen auf dem Heilsweg:
von Paul Debes
Wer
anfänglich die Lehre des Erwachten hört und durch sie aus dem Unwissen über den
Sinn des Daseins herausgekommen ist, so dass er jetzt weiß, wo Freiheit und Heil
ist und wo Gebundenheit und Leid ist, wer so weit ist in seiner Einsicht, der
denkt: „Ich halte diese Lehre des Buddha für richtig, ich will nach ihr leben."
Aber wenn er die Lehre noch näher kennen lernt, wenn er tiefer eindringt, dann
erfährt er öfter zunächst nicht zunehmende Befreiung, sondern manchmal sogar
zunehmende Not und Sorge, weil er an verschiedene Klippen kommt:
1. Er kommt sich immer schlechter werdend vor.
2. Oder er merkt, wenn er an die praktische Befolgung gehen will, dass es nicht gelingt. Er
hat den Eindruck, dass er viel zu schwach sei, dass er z.B. die Tugendregeln
nicht einhalten könne.
3. Oder er merkt, dass er zwar einen Anfang macht, aber immer wieder strauchelt. Er rafft sich wieder auf, strauchelt aber immer
wieder, so dass er den Eindruck hat, er sei unbeständig, stünde nicht treu zu der Lehre.
4. Wenn dieses Misslingen erlebt wird, dann wollen manche von der Lehre insgesamt nichts mehr wissen, so dass sie
meinen, jetzt seien sie gegen die Lehre.
5. Andere fangen an, der Triebwucht nachzugeben, sie wollen nicht mehr so viel mit einem Mal, streben nur noch die
Hälfte dessen an, was sie vorher erstrebten. Und sie haben dabei das schlechte
Gefühl, einen Kompromiss geschlossen zu haben, nicht mehr aufs Ganze aus zu
sein.
6. Andere wieder sind durch die "verschiedenen Klippen" so irritiert, dass sie nicht mehr aus noch ein wissen und darum nur noch mit halber Kraft
handeln. Sie haben einiges von der Lehre verstanden, aber nicht alles. - Sie
sehen den großen Abstand ihres Standpunktes vom Ziel,
und bei diesem Abstand verzweifeln sie und sind wie gelähmt.
Dieses
sind sechs Klippen, negative Erscheinungen, die vielen Menschen bei ihrem
Bemühen begegnen. Jeder Strebende wird einige dieser Klippen kennen. Sie führen
dazu, dass mancher ehrlich und ernst strebende Mensch an sich oder an der Lehre
verzweifelt, dass er glaubt, er, der früher von dieser Lehre gepackt und tief
ergriffen worden sei, habe sich nun abgewandt von ihr, habe sie verlassen, ja,
sei nun gegen sie eingestellt oder habe sich mit Kompromissen abgefunden.
Darüber ist er bekümmert, findet aber keinen Ausweg. Darum müssen wir
untersuchen, woher diese Nöte kommen und was man tun kann, um sie zu
überwinden. Wer die Lehre kennen gelernt hat, der kann nicht gegen sie sein.
Wer glaubt, gegen diese Lehre zu sein, der hat sie nicht recht begriffen oder
hält seine augenblickliche Schwäche und Verzweiflung für ein „Dagegensein". Wer
den pythagoreischen Lehrsatz nicht richtig kennt oder ihn nicht nachgeprüft hat,
der kann sagen: „Ich anerkenne ihn nicht." Aber der pythagoreische Lehrsatz
besteht dennoch weiter, wie er auch schon vor Pythagoras bestand. Ebenso verhält
es sich mit den Gesetzmäßigkeiten, die die Lehre aufzeigt. Aber in anderer
Weise besteht ein großer Unterschied zwischen dem pythagoreischen Lehrsatz und
der Lehre: den pythagoreischen Lehrsatz praktisch
anzuwenden, ist ganz einfach. Da gibt es keine Schwierigkeiten. Wer diesen
Lehrsatz als richtig erkennen kann, der kann ihn auch sogleich anwenden. Wer
aber die Lehre des Erwachten so weit kennt, dass er sie anerkennt, der kennt sie
meistens noch lange nicht so weit, dass er sie praktisch anwenden, dass er das
Leiden überwinden kann. Zur Anerkenntnis der Lehre des Erwachten kommt man
meistens schon nach einem nur sehr teilweisen Begreifen der ersten der vom
Erwachten genannten vier Wahrheiten, zur praktischen Anwendung der Lehre aber,
zur wirklichen Überwindung des Leidens bedarf es einer gründlichen Kenntnis
aller vier
Wahrheiten. Darin liegt der Grund für fast alle Schwierigkeiten in der Praxis.
Wer die erste Wahrheit begriffen hat, der meint - und mit einem gewissen
Recht -, er kenne die Lehre. Wer da begriffen hat, dass alles Dasein Leiden ist,
der will aus allem Leidigen heraus. Wenn er aber nicht alle vier Wahrheiten
gründlich kennt, dann wird er bei seinen Versuchen, zur Freiheit zu kommen,
erleben, dass es so, wie er es anstellt, nicht geht. Er verhält sich ungefähr so
wie die Luft in einem Fahrradschlauch oder in einem Autoschlauch, die
hinausdrängt und gerade durch ihr Hinausdrängen sich den Ausgang
versperrt. Dadurch dass die Luft von innen so stark drückt, drückt sie gerade
das Ventil zu. Ähnlich verhält es sich mit der Überwindung des Leidens. Der
Erwachte sagt, mit Sehnsucht, mit Wünschen ist nicht zu erreichen, dass die
Wesen frei werden von Leiden, sondern nur mit rechtem Vorgehen. Man stelle
sich einen großen Käfig vor, in dem ein Hund ist. An einer Stelle nur ist die
Tür und an der entgegengesetzten Seite steht außen der Herr und ruft den Hund.
Der Hund im Käfig rennt auf ihn zu und kann nicht durch das Gitter hindurch.
Nur
darum, weil er direkt zu seinem Herrn will, kann er nicht hin. Erst wenn er sich
entschließt, in entgegengesetzter Richtung zur Tür zu laufen, kann er seinen
Herrn erreichen. Und so müsste die Luft im Schlauch sich gerade von dem Ventil
zurückziehen, dann könnte sie austreten. Ebenso verhält es sich auch mit der
Befreiung des Menschen. Wir sind fast alle so, dass wir losrasen wollen, wenn
wir von der Möglichkeit des Freiwerdens hören, und gehen damit falsch vor. Um
richtig vorgehen zu können, ist die Kenntnis auch der zweiten, dritten und
vierten Heilswahrheit nötig. Der
Erwachte hat außer der ersten Wahrheit, dass alles Leiden ist und dass die
Freiheit jenseits des Wahns von „Leben und Dasein" liegt, eine zweite Wahrheit
gesagt, nämlich dass der Durst, der ständige, sich selbst immer nur fortsetzende
Drang, die Ursache des sich fortsetzenden Leidens ist, der tausendfältigen
Gestalten des Kommens und Gehens und immer wieder Sterbens. Er hat ferner die
dritte Wahrheit gesagt: die Aufhebung des Durstes nur bedeutet die Aufhebung des
Leidens. Wer diese drei Wahrheiten weiß, der weiß jetzt, wie total das
Leiden, das Elend ist, er weiß, dass dieser ewig drängende Durst es ist,
der
diese „Dasein" oder „Leben" genannte Leidensmasse dauernd in Gang hält, und dass
nur die Überwindung und völlige Auflösung des Durstes zur Auflösung auch des
Leidens führt. Aber er weiß noch nicht, wie er es anzustellen hat, um diesen
Durst restlos aufzulösen. Er müht sich in einer falschen Weise um die Aufhebung
des Leidens und kommt daher nicht zum Ziel, sondern gerät in viele Nöte, von
denen wir einige eben nannten. Darum hat der Erwachte noch eine vierte
Wahrheit genannt, die Wahrheit von dem Ausweg, und das ist ein achtgliedriger
Heilsweg. Das erste Glied ist rechte Anschauung. Was muss angeschaut,
erkannt
werden? Alle vier Wahrheiten. Um herauszukommen muss also auch die vierte
Wahrheit, der Weg, mitgewusst werden. Das zweite Glied ist rechtes Bedenken. Weil
man durch falsche Gedanken im Leiden bleibt, muss man richtige Gedanken einüben,
um aus dem Leiden herauszukommen. Das dritte Glied des achtgliedrigen Heilsweges
ist rechte Rede: Nicht trügerisch reden, nicht hintertragen, nicht verletzend
reden und nicht törichtes Geschwätz pflegen usw. Das vierte Glied ist rechtes
Handeln: Nicht töten, nicht stehlen, nicht in andere Partnerschaften einbrechen
und nicht Minderjährige verführen. Das fünfte Glied ist rechte Lebensführung,
die ausgeht von dem alles durchsetzenden Willen,
reiner und innerlich freier und lauterer zu werden. Das Leben wird recht
geführt, d.h. eine dementsprechende Umgebung wird gesucht, dementsprechende
Freunde, ein dementsprechender Beruf wird gewählt. Der Übende lässt sich nicht
hetzen von der Jagd nach Geld usw. Mit Besonnenheit wählt er seine Lektüre,
unterscheidet zwischen solcher, die zum Schlechten beeinflusst, und solcher, die
ihn zum Guten beeinflusst. Wer seine Lebensführung nicht in dieser Weise
einrichtet, der kann den guten Willen haben, frei zu werden, kann mit der Kraft
eines jungen Rosses zur Freiheit hinstreben, aber er wird an den nächsten Felsen
zerschellen, er kann nicht
frei werden, wenn er nicht mit Selbstzucht und mit ruhigem Überblick sein Leben
verändert. Das 6., 7. und 8. Glied bilden dann den Abschnitt der
Herzenseinigung. Wir werden sehen,
dass man nur aus Unwissen um alle vier Wahrheiten an die genannten Klippen
herankommt und dass man nur in dem Maße, wie man alle vier Wahrheiten kennt, aus
allen Klippen herauskommt.
Die
erste Klippe: Der Übende kommt sich beim Kennen lernen der Lehre zunehmend
schlechter vor.
Wenn
einer die Lehre zu verstehen beginnt und erkennt, dass die Aufhebung des
Dürstens das Ziel ist, völlig frei von allem Wollen zu sein, dann merkt er
überhaupt erst, wie viel Wollen in ihm vorhanden ist, gutes und schlechtes
Wollen, das mit starkem Druck zur Befriedigung drängt. Durch diese
Selbstbeobachtung merken die an die Lehre Herankommenden nicht, dass sie schon
immer von diesem Wollen bewegt wurden, sondern meinen, sie würden jetzt erst so
leidenschaftlich getrieben von Bewegkräften. Hinzu kommt, dass man am Anfang oft
meint, das Ziel, die Freiheit, wäre etwa mit einem Berg von 100 m Höhe
zu
vergleichen, den man bald erstiegen hätte. Aber je genauer man das Ziel und die
Wege dahin betrachtet, umso höher scheint der Berg zu werden. Indem man durch
zunehmende Erkenntnis sieht, wie hoch der Berg ist, sieht man sich selber immer
tiefer gleiten. Dieser Täuschung erliegen viele am Anfang. Je mehr man aber
besonders die vierte Wahrheit, den achtgliedrigen Heilsweg, versteht, sieht man,
dass der Weg ein allmählicher ist, dass man nicht gleich alles Wollen abtun
kann, sondern dass der Erwachte einen Stufenweg genannt hat, das Wollen zu
verbessern, zu verfeinern.
Die
zweite Klippe: Der Übende hat den Eindruck, dass er zu schwach
sei
Wenn
man diesen Stufenweg nicht im einzelnen, sondern nur sein Ende bedenkt, mag man
sich schwach vorkommen und meinen, dass man die Läuterung nicht schaffe. Das ist
gerade so, wie wenn ein Mensch 15 Zentner von der Stelle bewegen wollte. Im
ersten Anlauf kann er die 15 Zentner vielleicht ein wenig erschüttern, aber
dabei merkt er erst das 15-Zentner-Gewicht, das er nicht von der Stelle bekommen
kann. Und wenn er nicht auf den Gedanken kommt, dass das Gewicht geteilt,
gedrittelt, geviertelt, gehundertelt werden muss und kann, dann verzweifelt er.
Ebenso kann der normale Mensch nicht die gesamte Wucht seines Durstes,
seines
inneren Dranges abtun. Der Erwachte gibt ein Beispiel: Wenn ein Elefant im
Wald gefangen wird und der Elefantenbändiger will ihn ausbilden zu einem
Königselefanten, der im Schlachtgetümmel unerregbar seine Aufgabe erfüllt, dann
muss er Schritt für Schritt abgerichtet werden. Zuerst muss er lernen, auf
Befehl hin und her zu gehen, sich niederzulegen und wieder aufzurichten. Dann
muss er lernen, jemanden zu tragen und die gewünschte Richtung einzuhalten. Und
dann lernt er die Übungen, die „Unverstörung" genannt werden, dass er wilde
Musik und Getöse unmittelbar in seiner Nähe aushält. Später wird er mit Speeren
und Pfeilen beschossen
und muss trotzdem ruhig stehen bleiben. Wenn der Elefantenbändiger ihm diese
letzte Übung gleich am Anfang beibringen wollte, so würde der Elefant alles
zertrampeln und in den Wald zurücklaufen. Ebenso ist es mit den Menschen. Wir
sind seelisch in die Torheiten, in die Dränge, Dürste, Tendenzen
hineingewachsen, wir können auch nur ganz allmählich wieder heraus. Darum warnt
der Erwachte davor zu übertreiben, sich zu überspannen, aber er warnt auch
davor, sich zu wenig einzusetzen. Der Erwachte sagt, wer seine Kräfte in
rechtem, gesundem, mittlerem Maß, nicht zu wenig und nicht zu überspannt
einsetzt, der geht den
Weg heiter und zuversichtlich von Etappe zu Etappe. Er kommt vorwärts und stellt
fest, dass er vorwärts kommt und wird darüber immer zuversichtlicher und
sicherer, weil er weiß: Wenn ich dieses geschafft habe, werde ich das
weitere auch noch schaffen können. So gewinnt er immer mehr Kraft und Mut zum
Weitermachen.
Die
dritte Klippe: Straucheln beim Üben.
Der
Übende kommt ein Stück vorwärts, fallt dann aber doch wieder auf ein
Begehrensobjekt herein, lässt sich zum Bruch von Tugendregeln verleiten, zur
Schädigung der Mitmenschen - zu üblen Verhaltensweisen, die er längst überwunden
zu haben glaubte. Er nimmt wieder einen Anlauf, fällt wieder zurück, versucht es
wieder, fällt wieder zurück - so dass er sich den Vorwurf machen zu müssen
meint, er sei zu schwach, zu unbeständig, sei kein Nachfolger der Lehre des
Erwachten. Der Erwachte sagt: Wenn einer deutlich weiß: Wenn ich diese
Speise esse, bekomme ich starke Schmerzen oder muss gar sterben, dann kann ihn
die Speise
noch so sehr verlocken, dann kann er sich nicht entschließen, sie zu essen, es
sei denn, dass er sterben will. Ebenso: Wenn einer deutlich weiß: „Wenn ich
mich verlocken lasse, dann ist das der Weg in tiefstes Elend hinein", dann kann
er der Verlockung nicht ungehemmt folgen. Man strauchelt und fällt nur darum,
weil man zu der Zeit gerade nicht deutlich vor Augen hat, wie gefährlich es ist,
der Verlockung nachzugehen. Im Vordergrund steht dann die verlockende Sache, mit
der man sich befriedigen will, und nicht die rechte Anschauung von ihrem Unwert
und der Gefährlichkeit des Ergreifens
und Sich-Bindens an diese Sache. Der in der Lehre bewanderte sagt: Wer
sich der Betrachtung der äußeren Erscheinungen hingibt, der wird diesen Dingen
immer mehr verhaftet. Aus Anbindung entsteht allmählich Verbindung. Durch
ständige gedankliche Verbindung mit diesen Dingen entsteht ein Reiz nach ihnen.
So wird das Herz an sie gebunden, und daraus entsteht Verlangen und Begehren.
Das ist die Reihenfolge: Zuerst Gedanken an die Dinge, dann Bindung daran und
schließlich Verlangen nach ihnen.
Ein Beispiel: "Ein (bisher
häuslicher) Mann begleitet seinen Freund auf dessen Drängen hin in ein
Weinlokal. Der Freund fordert ihn ein
zweites Mal auf. Er geht wieder mit. Er geht wieder und wieder mit. Das nennt
man Verbindung. Nach und nach beginnt der häufige Besuch des Lokals für ihn
reizvoll zu -werden. Der Mann entwickelt Geschmack dafür, gewinnt Lust daran und
genießt es. Das nennt man Verlangen oder Begierde. Aus Begierde entsteht
Erregung des Gemütes".
Dieses Beispiel zeigt in aller Deutlichkeit, wie
lediglich durch entsprechende Gedanken ein vorher nicht vorhanden gewesener
Trieb entsteht. Vor der ersten Aufforderung durch seinen Freund „gab es" für
diesen Mann gar keine Gaststätten, er vermisste sie auch nicht und war
zufrieden, ohne dass diese in
seinem Leben eine Rolle spielten. Wenn er schon während des ersten Aufenthaltes
in dem Lokal gleich Freude und Befriedigung empfunden hätte, dann wäre dies ein
Zeichen für einen bei ihm schon vorhandenen Trieb nach solchem Erlebnis gewesen.
Da ihm aber der erste Aufenthalt dort keine plötzliche stärkere oder schwächere
Befriedigung vermittelt hatte, sondern fast nichts bedeutete, so ist daran zu
erkennen, dass er zunächst noch keinen Trieb in dieser Richtung hatte. Er würde
aus sich selber gar nicht auf den Gedanken kommen, wieder dorthin zu gehen. Aber
der Freund fordert ihn wieder auf und so immer wieder. Zuerst
ist er um des Freundes willen in dem Lokal, aber allmählich entsteht eine
direkte Verbindung zu dem Aufenthalt in dem Lokal mit allem oder mit einigem
dessen, was dort vorkommt. Je mehr nun der Aufenthalt dort für ihn reizvoll
wird, um so eher auch tritt bei ihm, allmählich schon ohne Einladung des
Freundes, der Gedanke an das Lokal in den Sinn, und er verspürt eine Neigung,
dorthin zu gehen. Wenn er es jetzt einmal zu Hause in der Familie nicht angenehm
und wohltuend empfindet, dann tritt ein Verlangen nach dem Besuch des Lokals bei
ihm ein. So ist
also dieses Lokal mit dem, was es bietet, für diesen Menschen durch Hinwendung
der Aufmerksamkeit, durch Beachtung, „entstanden", in sein Leben getreten,
gehört zu dem Kreis seiner Bedürfnisse, wird nun, wenn es nicht eintritt,
vermisst, und das meint er, wenn er in dem letzten Satz sagt: „Aus Begierde oder
Verlangen entsteht Erregung des Gemütes." Das heißt, es ist nun ein Bedürfnis
entwickelt, ein Haben wollen, und das bedeutet Haben müssen, Verlangen, Durst,
Erregung. Und Bedürftigkeit bedeutet Armut, Abhängigkeit, Leid. „Ist
Befriedigung entstanden, so entsteht Leiden", sagt der Erwachte.
Also
nicht weil er zu schwach ist, strauchelt er,
sondern weil er diesen Zusammenhang des Anbindens und Verbindens und das dadurch
entstehende Leiden nicht leuchtkräftig genug sieht. In dem Augenblick, in
dem einer leuchtkräftig sieht: „Das ist leidig", in dem Augenblick kann ihn das
Leidbringende nicht verlocken. Es kann nur einer straucheln, der das
Leidbringende nicht deutlich vor Augen hat, wie unheimlich gefährlich und elend
das Leidbringende ist. Er hat im Augenblick mal wieder das Verlockende stark im
Vordergrund seines Denkens. Also sieht man, woran es fehlt. Es fehlt an der
rechten Anschauung. Es kann einer, der leben will, nicht etwas tun, von dem er
weiß, dass es tödlich
ist. Nur wenn er es nicht weiß, wenn er es vergessen hat, kann ihn das
Verlockende reizen. Da geht es darum, die rechte Anschauung zu stärken. Nicht
sich weismachen, dass etwas leidig ist - das wird im Ernstfall doch keiner
glauben -, sondern ganz genau untersuchen: „Ist das leidig oder nicht." In dem
Augenblick, in dem einer deutlich sieht: „Das ist leidig", kann er es nicht
anstreben wollen. Man strauchelt also nicht, indem man trotz des deutlichen
Anblicks des Leidhaften dem Leidhaften nachgeht, sondern weil man das Leidhafte
in dem Augenblick nicht sieht. Der Übende mag intellektuell das Leidhafte
wissen,
weil er es vor etwa acht Wochen gehört hat, bedacht hat und noch nicht vergessen
hat. Er weiß noch: „Ja, das ist das zu Wohl und Heil Führende", aber im
Augenblick sieht er leuchtkräftig das Verlockende, das ihm entgehen soll. Warum
es Leiden ist, das hat er vergessen, will es im Augenblick auch gar nicht
wissen. Wer aber dann der Neigung zum Trotz sich deutlich das Leidhafte des
Begehrens oder Übelwollens vor Augen führt, der wird es nicht mehr wollen
können, so wie nach einem Gleichnis des Erwachten eine verlockende Speise, die
mit Gift versetzt ist, niemanden locken
kann, der um das Gift weiß. Darum führt sich der Übende in ruhigen Stunden,
morgens, in neutraler Zeit, wenn die Gier nach diesem oder der Hass gegenüber
jenem sich noch nicht melden, weil sie noch nicht durch Erlebnisse geweckt
worden sind, die Dinge vor Augen, die ihm am schwersten zu scharfen machen, an
denen er am stärksten hängt, und bedenkt, was an diesen Dingen leidig ist, warum
es leidig ist. Er ruht nicht, bis er ganz deutlich die Leidhaftigkeit einer
üblen Eigenschaft oder des Sich-Verbindens mit einer Sache deutlich erkennt.
Bei stark verlockenden Dingen ist es allerdings oft
so, dass der Übende die rechte Anschauung nur sehr dünn, wenig leuchtkräftig
halten kann. Das intellektuelle Wissen kommt gegen die durch die Triebe erzeugte
Blendung nicht an, wie es der Erwachte auch von sich sagte, als er noch nicht
die Erfahrung überweltlichen Wohls gemacht hatte:
Auch ich hatte vor dem
Erwachen, als ich, noch kein vollkommen Erwachter, auf die Erwachung zuging, der
Wirklichkeit gemäß mit vollkommener Weisheit klar gesehen: „Unbefriedigend
sind die Sinnendinge, voller Leiden, voller Qual, das Elend überwiegt. Aber
solange ich nicht außerhalb der Sinnendinge, außerhalb der heillosen Dinge zu
innerer Beglückung gekommen war oder zu einem noch stilleren Wohl, so lange
musste ich mir eingestehen, dass ich nicht imstande war, von der Verlockung
durch Sinnendinge loszukommen. Sobald ich aber der Wirklichkeit gemäß mit
vollkommener Weisheit klar gesehen hatte: „Unbefriedigend sind die Sinnendinge,
voller Leiden, voller Qual, das Elend überwiegt" und außerhalb der Sinnendinge,
außerhalb der heillosen Dinge zu innerer Beglückung gekommen war oder zu einem
noch stilleren Wohl, da konnte ich bei mir feststellen,
dass ich von der Verlockung durch Sinnendinge losgekommen war.“
Solange
der Mensch in Herz und Gemüt öde und kalt und grau ist, so lange braucht er das
Außen. Und solange man das Außen braucht, gibt es das Problem zwischen Erlangen
und Nichterlangen. Dann ist das Nichterlangen Leiden, Qual, und man jagt nach
dem Erlangen. Aber wenn man innen beglückt und hell ist, dann braucht man von
außen nichts. Wer zu einer gewissen Tugendhelle gekommen ist, wer die Erhellung
des Herzens bei sich spürt, der hat ganz natürlicherweise das Bestreben, diesen
Glanz zu erhöhen durch sanfte Begegnung, durch schonenden, fürsorglichen Umgang
mit allen Mitwesen, und es zieht ihn in
diese eigene weltunabhängige, weltabgeschiedene, selbständig machende innere
Helligkeit als eine Zuflucht, die sicherer ist als alles Äußere. Darum rät der
Erwachte:
„Erwirket bei euch, ihr Jünger, dass ihr am Nichtverletzen der
Wesen erhellende Freude gewinnt, dass ihr über das Schonen der Wesen glücklich
und froh werdet. Wenn ihr so wirket, ihr Jünger, dass ihr am Nichtverletzen der
Wesen erhellende Freude gewinnt, dass ihr über das Schonen der Wesen glücklich
und froh werdet, so wird euch bei allen solchen Handlungen und Gesinnungen immer
wieder der beglückende Gedanke kommen: 'Durch dieses Verhalten verletzen wir
nicht irgend etwas, sei
es schwach oder stark.' Erwirket bei euch, ihr Jünger, dass ihr an der
Abgeschiedenheit tiefe Freude gewinnt, dass ihr über die Abgeschiedenheit
glücklich und froh werdet. Wenn ihr so wirket, ihr Jünger, dass ihr an der
Abgeschiedenheit tiefe Freude gewinnt, dass ihr über die Abgeschiedenheit
glücklich und froh werdet, dann wird euch immer wieder der vorwärts bringende
Gedanke kommen: Was ist noch unheilsam an mir? Was ist noch nicht
abgetan? Was wollen wir ablegen?
Die hier vom Erwachten genannten
beiden inneren Haltungen und inneren Stimmungen, Empfindungen kennt jeder in dem
Maße, wie er sich in der Heilsentwicklung befindet, und
er kennt auch die Erfahrung, die Wilhelm von Humboldt ausdrückt:
"Wenn
man unbekümmert um die Art, wie man hier vom Schicksal behandelt wird, nur auf
das geistige Ziel sieht, dem man zustrebt, also: Stärke, Selbstverleugnung übt
und wachsame Herrschaft über sich selbst, dann entsteht daraus die heitere,
furchtlose Ruhe, die nichts Äußeres bedürfend, sich wie ein zweiter Himmel: ein
geistiger neben dem körperlichen in unbewölkter Bläue über den so in sich
gestimmten Menschen breitet".
Die Gesamtentwicklung zu innerer
allmählicher Erhellung löst immer wieder spontan aufkommende Freude darüber aus.
Wenn der in dieser Entwicklung befindliche Mensch bei
sich Fortschritte merkt oder wenn ihm wichtige Aussagen der Lehre plötzlich
tiefer einleuchten, so erlebt er daraus einen großen Aufschwung seines
Empfindens. Denn soweit der Fortschritt auf der Tugend beruht, wird ihm damit
sein praktisches Fortschreiten erfahrbar, soweit es das Aufkommen einer tieferen
Einsicht ist, merkt er, wie er dem Verständnis der Lehre näher kommt. Beide
Einsichten verursachen diese aufsteigende Freude, nämlich „Wahrheitwonne" und
„Tugendwohl": die Wahrheitwonne kommt mehr aus Klarheit, das Tugendwohl mehr aus
Reinheit. Diese Freuden sind der Ausgangspunkt der Entwicklung zur geistigen
Beglückung, die bis zu aufleuchtender Entzückung reichen kann. Wenn
diese
sehr stark geworden ist, dann richtet sich der Geist so ausschließlich nach
innen auf diese Beglückung, dass er darüber „verzückt" wird und darüber die
sinnliche Wahrnehmung „vergisst". Bisher lugte er immer aufmerksam von innen
durch die Sinne nach außen, nahm also die sinnliche Welt auf. Diese selbe
Aufmerksamkeit weilt jetzt bei dem inneren Glück, weil es so beglückend ist.
Dadurch aber stellt sie ihr Lugen durch die Sinne ein, und so beginnt die
Entrückung von der sinnlichen Wahrnehmung der Außenwelt, das Aufhören der
sinnlichen Wahrnehmung zugunsten eines reinen inneren Glücks. So ist geistige
Beglückung der erste Schritt
des Übergangs zur Herzenseinigung (samadhi),
Der Erwachte empfiehlt
deshalb, die „geistige Beglückung in Abgeschiedenheit" zu pflegen. Unter
„Abgeschiedenheit" oder Zurückgezogenheit wird nicht in erster Linie eine
äußerliche Trennung von Menschen und Dingen verstanden, sondern vielmehr das
Anstreben einer inneren Selbständigkeit, eines Bei-sich-selber-Wohnens, indem
man in seiner eigenen Verantwortlichkeit für sich selbst zu leben sich gewöhnt
und nicht mit anderen Wesen und Dingen rechnet. Eine solche Haltung der
Abgeschiedenheit kann natürlich um so leichter gelingen, je mehr der Mensch bei
sich selbst solche Einsichten und solche hellen Empfindungen vorfindet, die es
ihm leicht und lieb machen, so
eigenständig zu leben. Ein solcher wird seinen Pflichten der Umwelt gegenüber
leichter und sicherer nachkommen als jemand, der sich mit zu großen Erwartungen
auf die Umwelt richtet und darauf angewiesen ist, sein Wohl und Glück nur von
dort zu beziehen. Darum hat der Erwachte seinerzeit nicht nur den Mönchen,
sondern auch Hausleuten empfohlen, die Haltung solcher Abgeschiedenheit
anzustreben, weil dadurch denen, die sich bereits zu einer inneren Helligkeit
entwickelt haben, dann leichter geistige Beglückung aufgehen kann, das Tor zur
Herzenseinigung.
Die
vierte Klippe: Bei Misslingen von Übungen von der ganzen Lehre nichts mehr
wissen wollen.
Die
Realität und Wucht der Triebe muss zur Kenntnis genommen werden. Man kann nicht
gegen eine Mauer rennen in dem Gedanken: „Ich bin souverän, ich gehe hier
einfach durch." Die Triebe haben ihre Kraft, die nur langsam gemindert werden
kann. Man kann nicht einen rasenden D-Zug dadurch zum Halten bringen, dass eine
Mücke dagegen fliegt. Man kann ihn auch nicht dadurch zum Halten bringen, dass
man ihn gegen einen Felsen lenkt. Dann hält er zwar, aber alles ist zerstört.
Man muss langsam immer mehr bremsen. Wenn einer unrealistisch zu viel will, dann
kommt ihm in der dadurch ausgelösten Verzweiflung
und Ausweglosigkeit ganz natürlich der Gedanke: „Ich lass das Ganze, ich will
davon nichts mehr wissen." Und so kann einer meinen, er sei jetzt gegen die
Lehre eingestellt, wolle von ihr nichts mehr wissen. Doch innerlich weiß er,
dass die Lehre richtig ist, dass er nur falsch vorgegangen ist. Aber er kennt
nicht das richtige Vorgehen, darum schreit er verzweifelt: „Ich will von der
Lehre nichts mehr wissen, ich bin dagegen." Er wusste die Reihenfolge nicht,
kannte nicht den achtfältigen Heilsweg, wusste nicht um die ganze Wahrheit. Das
A und 0 des Vorwärtskommens ist rechte Orientierung.
Die
fünfte Klippe: Das schlechte Gefühl, einen Kompromiss geschlossen zu haben.
Da
mag sich ein Kenner der Lehre sagen: „Ich kann nicht alles Wollen lassen, wie
ich möchte, die Welt erscheint mir noch oft sehr schön. Ich muss darum noch
manchen Wünschen, manchen Begierden nachgeben, und ich bin auch noch nicht frei
von Abwendung und Gegenwendung. Aber ich will auf keinen Fall wegen meiner
Begierden töten, stehlen oder trügerisch reden und nicht aus Abneigung und Hass
schimpfen und beleidigen." Innerlich aber denkt er: „Das ist ein elender
Kompromiss, ist nichts Ganzes, sondern etwas Halbes. Damit komme ich überhaupt
nicht zu dem Wesentlichen." Sicherlich ist diese Beschränkung etwas Halbes,
ist
nichts Ganzes, aber es ist doch kein Kompromiss. Denn wenn der Nachfolger die
ganze Wahrheit weiß, dann weiß er ja, dass er nicht ewig diese Welt lieben will,
sondern dass er einfach die fünfzehn Zentner, deren Leidhaftigkeit er immer
wieder gesehen hat, nicht mit einem Mal heben und fortschaffen kann. Er muss
erst einen Zentner fortschaffen, und zwar den Zentner Untugend, durch den er am
meisten Leid über sich und andere bringt. Wer sich so entschließt, braucht
nicht zu denken, er gäbe sich jetzt mit Halbheiten zufrieden, schließe einen
Kompromiss. Ein solches Vorgehen ist ein weises Einteilen, das
der Erwachte empfiehlt. Wer alle Triebe mit einem Mal aufheben will, muss
notwendig scheitern. Indem einer ganz bewusst nur das erste Viertel des
Weges auf sich nimmt und sich sagt: „Wenn es so weit ist, werde ich das nächste
Viertel in Angriff nehmen, nicht jetzt schon, sondern erst wenn ich soweit bin",
dann ist er keiner, der Kompromisse macht, sondern ein Realist. Viele Leiden
sind darauf zurückzuführen, dass einer in falscher Weise die Aufhebung der
Triebe insgesamt anstrebt.
Die
sechste Klippe: Verzweiflung, weil der große Abstand des eigenen
Standpunktes vom Ziel gesehen wird.
Wer
sich an einigen dieser fünf Klippen immer wieder stößt, der kann dazu kommen,
dass er mit der Lehre nichts mehr zu tun haben will oder dass er nur noch mit
halber Kraft, mit halbem Einsatz, voll Resignation vorwärts strebt, mit innerer
Trauer und mit Wehmut vielleicht zwei, drei Gedanken noch pflegt, aber sonst
aufgibt in dem Gedanken: „Mit der Lehre komme ich nicht zurecht." Diese
Einstellung kann sehr hemmen. Aus dieser Sackgasse kann einer nur herauskommen,
indem er sich besser über die richtige Reihenfolge des Vorwärtsgehens orientiert
und sich dann auf die ersten Schritte der Tugendübung
konzentriert. Es geht darum, nicht dreißig verschiedene Übungen auch noch
anzustreben und hier und dort mit halber Kraft herumzuflattern, sondern sich mit
Sammlung und Konzentration auf einiges zu beschränken. Wenn dies gelingt, dann
wird ein solcher zuversichtlicher und mutiger und erwirbt sich dadurch auch
Geduld und Beharrlichkeit im Weitermachen. Vier Übungen helfen, die Wucht der
Triebe allmählich zu bremsen: l. Sich immer wieder über das ganze Dasein
orientieren, rechte Anschauung pflegen, das erste Glied des achtgliedrigen
Weges: „Was führt ins Elend hinein, was heraus, was ist heilsam, was unheilsam."
Dies aufzuzeigen ist Zweck der Religionen.
Sie zeigen den Weg aus dem Leiden heraus. Die Lehre des Buddha zeigt den ganzen
Weg heraus, andere Religionen den halben oder dreiviertel Weg. 2. Zum
Heilsamen, Guten Sehnsucht, einen engen, innigen Kontakt gewinnen dadurch, dass
man gute Texte liest, Freude am guten Sein und Tun gewinnt. Man kann diese Texte
öfter lesen, auswendig lernen, leise vor sich hin sprechen, über sie nachdenken.
3. Die dritte Übung ist umgekehrt: Die Gefahr des Üblen sich deutlich vor
Augen führen, so dass man vor schädlichen, gefährlichen, unheilsamen, unwürdigen
Verhaltensweisen Abscheu, Entsetzen fasst und damit Abstand von ihnen gewinnt,
sie
nicht mehr tun kann. Durch diese beiden Meditationen, morgens durchgeführt,
gewinnt man für den Tag Kraft zum Guten und auch Kraft, sich vom Üblen
abzustoßen. Die 4. hilfreiche Übung ist, dass man sich mit Besonnenheit und
Vorsicht eine unterste Grenze setzt, indem man sich sagt: „Diese oder jene
Tugendregel will ich nicht mehr übertreten. Der Mensch muss eine absolute Grenze
haben nach unten." Er darf sich nicht bei allem entschuldigen können: „Unter
diesen Umständen ging es nicht anders." Bevor man sich etwas zu Meidendes
vornimmt, sollte man sich aber längere Zeit beobachten, ob man diese oder
jene
Tugendregel als absolut zu meidend, auf sich nehmen kann. Wer sich ein oder zwei
Verhaltensweisen fest vornimmt nicht zu tun, der hat auch die üblen Folgen, die
sich daraus ergeben, überwunden. Wer sich keine untere Grenze setzt, ist in
seinem Verhalten wie Gummi. Er mag unter guten Umständen, in denen es leicht
fällt. Gutes tun, aber unter schwierigeren Umständen erfindet er
Entschuldigungen, das Gute nicht tun zu müssen. Aus rechter Anschauung und
dem Einhalten fester Vorsätze erwächst Sicherheit, Ruhe, ein innerer Frieden,
der durch nichts zu zerstören ist. Und damit sind alle sechs Klippen
umgangen.
|