Zwei Eigenschaften, sagt der Erwachte, beschirmen die Welt:

Scham und Scheu.

 

Es gibt ein Gleichnis: Eine Festung hat außerhalb der sie völlig umschließenden Mauer einen tiefen Festungsgraben, der u.a. die Abfälle und Fäkalien der Festungsbewohner enthält. Eine Fallbrücke, die man hochziehen kann, führt darüber. So wie man Abscheu vor den Abfällen und Ausscheidungen in der Tiefe, im Abgrund, unterhalb des eigenen Standortes, empfindet, so schämt sich der Mensch vor Üblen, Niedrigen und unterlässt darum üble Taten und Worte. Die Scham (hiri) des Menschen vor eigenem unwürdigem, dunklen Tun ist eine starke Waffe des Heilskämpfers. Und so wie die Festung auf ihrer hohen Rundmauer einen rundum verlaufenden Gang hat, von welchem aus man weit ins Land hineinsehen und die Feinde und die von ihnen drohenden Gefahren rechtzeitig erkennen kann - so weiß der Kenner der Lehre um die karmischen Folgen von üblem Tun. So scheut er (ottappa) die üblen Folgen und unterlässt aus Furcht vor ihnen übles Wirken.

Der normale Mensch - gefangen von den vielfältigen Sinneseindrücken - wird in Anspruch genommen von den Anforderungen, welche die Kette der lebenslänglich erlebten Situationen ganz unmittelbar an ihn stellt: Von den Aufgaben der Fürsorge für sich und die Familie, im Beruf- und Wirtschaftsleben und auch von dem Streben nach Wohlsein, Lust und Freude. Die Aktivität der meisten Menschen erschöpft sich weitgehend in dem vielseitigen Bemühen, in diesem Leben bis zum Tode von Fall zu Fall so weit wie möglich allem Schmerzlichen und Gefürchteten zu entgehen und das Gewünschte und Ersehnte zu erlangen.

Das aber, womit sich die Religionen beschäftigen, ist, wie sie teils behaupten, teils beweisen, nicht die den Sinnen zugängliche offenbare Existenz, sondern es sind die gerade weniger sichtbaren geistigen Gesetzmäßigkeiten. Religion ist Wissenschaft von geistigen Zusammenhängen. Den geistigen Erscheinungen wohnt eine andere Kausalität inne als den Erscheinungen der als materiell erlebten Welt. Wenn man zum Beispiel kräftig gegen eine Glasscheibe schlägt, dann muss sie zerbrechen. Aber warum gegen die Glasscheibe  geschlagen wird, das hat weniger offenbare, geistige Gründe, zum Beispiel Unachtsamkeit oder Zorn oder anderes. Ein Mensch, der seine geistigen Motivationen mehr achtet, merkt, wenn Begehren und Verdruss in ihm ist, wie er davon gelenkt und geschoben wird und was aus ihnen sich ergibt. Er merkt, wie sinnliche Wahrnehmung, Gedanken und Vorstellungen ihn reizen und erregen. Die Kraft der Triebe ist stark spürbar, aber für die Sinne sind sie unsichtbar, sie sind nicht von der irdischen Welt, haben keinen Ort, haben kein Gewicht, nehmen keinen Raum ein. Ein Körper mit vielen Trieben ist nicht schwerer als ein Körper mit wenig Trieben. Und ein Kopf mit vielen Gedanken ist nicht schwerer als ein Kopf mit wenig Gedanken. Und doch sind es die Triebe und die Gedanken, die den ganzen Körper bewegen. Manchmal kann man die Triebe mit einem Gedanken auflösen, manchmal steht eine so große Wucht dahinter, dass im akuten Augenblick fast kein Vernunftgedanke ihn beeinflussen kann, sondern nur der Drang vorherrscht, sich zu erleichtern, sich mit einem Kraftakt zu befriedigen, eine innere Verklemmung oder Zorn auf diese Weise leidenschaftlich abzureagieren. Die Triebwucht setzt das ganze Körperwerkzeug in Bewegung nur mit dem einen Willen, von der unerträglichen Spannung freizukommen. Dies beobachtend und vor allem bei der Absicht, der Triebwucht zu widerstehen, bekommen aufmerksame Menschen eine Ahnung von der Gewalt geistig-seelischer Vorgänge. Sie stoßen im Wollen, Denken und Empfinden immer wieder in die dunkle, tiefe Dimension der eigenen Psyche hinter der sinnlich wahrnehmbaren Welt vor und spüren, dass sie hier bei den bewegenden und lenkenden Kräften des Menschen und der äußeren Welt sind, dass diese unsichtbaren, raumlosen und weltlosen Dränge, die insgesamt als das Herz, die Psyche, empfunden werden, "jenseits" der Welt sind und nichts zu tun haben mit Geburt, Alterung und Sterben des dieser Welt zugehörigen Körpers. Sie kommen zu der ahnenden Einsicht, dass es Sinnentranszendentes ist, welches diese sinnlich wahrnehmbare Welt mit ihren Einzelheiten hervorbringt und lenkt, dass zeitlose Dränge je nach ihren Qualitäten die Schöpfer sind für die zeitlichen Erscheinungen mit ihrem Kommen und Gehen. Von daher erkennen und erspüren sie, dass nichts wichtiger ist, als diesem unsichtbaren Herd alles Bewegten auf die Spur zu kommen, diesen Regisseur des Lebensfilmes kennenzulernen. Die Eigenschaften solchen Tastens nach der anderen Dimension werden in allen Religionen Glauben oder Vertrauen genannt.

Die so begabten Menschen kommen mit den Berichten der Tageszeitungen und Erkenntnissen einer Wissenschaft, die nur das vor Augen liegende und das Mess- und Berechenbare angeht, nicht aus, sondern suchen unbewusst oder bewusst in ihrem Leben nach größeren, weiteren Ausblicken und nach Antwort auf ihre oft nur halbbewussten Fragen. Darum kommen sie im Laufe ihres Lebens meistens früher oder später an die in ihrem Kulturraum vorhandene Religionsform oder Weisheitslehre, finden darin teilweise Beantwortung ihres Fragens und bemühen sich, nach den Anweisungen dieser Lehre ihr Leben zu führen. Andere sind mit den Antworten ihrer heimischen Religion noch nicht voll zufrieden und suchen weiter unter anderen Religionsformen.

Mit der Eigenschaft des Vertrauens sind bestimmte andere Empfindungen und Eigenschaften unlöslich verbunden, denn das Gefühl dafür, dass die gegenwärtige Daseinsform mit all ihren Ereignissen und Schicksalen "von langer Hand vorbereitet und ausgebaut worden war" und das alles gegenwärtige Sinnen und Beginnen nicht verlorengeht, sondern Einfluss auf späteres Erleben und Schicksal hat - dieses ungewisse, aber unüberhörbare innere Raunen führt zwangsläufig dazu, dass ein solcher Mensch nicht so wie der ahnungslose Sinnenmensch allen Moden der Vergnügungssuche und der Lustbefriedigung und allen Formen der Selbstbehauptung und des Sich-Selbst-Durchsetzens folgen kann. Er fühlt sich zurückgehalten, Rücksichtslosigkeit und kalte Lüstlichkeit zu leben. Und wo er durch Einflüsse aus der Umgebung oder durch innere Leidenschaften in dergleichen geraten ist, da schämt er sich hernach vor sich selber, denn er empfindet solches infantile und oft tierische Betragen als unvereinbar mit den feineren, wärmeren und helleren Gedanken und Empfindungen seines Gemütes, die ihn zu anderen Zeiten bewegen. Immer wieder, wenn er bei seinen feineren inneren Möglichkeiten wohnt, erscheint ihm das wüste Leben unwürdig und wie ein Verrat an seinem besseren Selbst, und er weiß, dass er auf die Dauer nicht diesen beiden sehr unterschiedlichen Strömungen folgen kann und darf. Diese Eigenschaft nennt der Erwachte Scham (hiri).

Aber nicht nur die Scham, so weit abseits zu gehen von seinen helleren und größeren Möglichkeiten, Vorstellungen und Empfindungen, hält ihn zurück, sondern auch eine aus ahnungsdunkler Furcht erwachsene Scheu (ottapa). Auch ohne den schon in allen Heilslehren behaupteten und an Beispielen und Gleichnissen deutlich gemachten geistigen Zusammenhang - und das ist die geistige Kausalität - zwischen der Lebensführung der Wesen und ihrem späteren Ergehen zwischen Helligkeit und Dunkelheit richtig eingesehen zu haben, sind sie geleitet von einem halbbewussten Gespür für diese Wirklichkeit, so dass sie seine Scheu empfinden, den inneren Leidenschaften wie auch den äußeren Vorbildern hemmungslos zu folgen. Sie spüren eine Beklemmung, dass sie mit solchem Tun dunkle Schatten über ihre Zukunft bringen würden. Diese Eigenschaft nennt der Erwachte die Scheu.

So bringt "Vertrauen" oder "Glauben" das ahnende Wissen davon, dass das Dasein größer ist und weiter reicht als der mit sinnlicher Wahrnehmung erfahrbare Horizont verspricht, auch zugleich ein Gefühl sowohl für das Größere, Edlere als auch für das Gemeine mit sich - die Scham - und ebenso die Sorge vor drohenden Gefahren bei einem Verweilen im Dunklen: die Scheu.

Die durch Vertrauen bedingten Eigenschaften Scham und Scheu bewahren vor vielem Üblen. Der Erwachte sagt von ihnen, sie halten in der Menschheit die menschlichen Sitten, das menschliche Antlitz hoch und verhindern die Vertierung der Menschheit und das Chaos, ebenso wie die Nabe die gesamten Speichen des Rades zusammenhält und den Zusammenbruch verhindert.

Der Erwachte erwähnt zuerst die edlere Kraft, die Scham. Es ist vornehmer und heller, wenn der Mensch das Üble lassen kann in dem Gedanken und Empfinden, dass es seiner unwürdig ist, so zu leben. Aber dennoch ist es viel besser, aus Furcht und Scheu vor den üblen Folgen alles üble, dunkle Tun zu unterlassen, als es zu tun, wenn nicht schon die Scham es verhindert.

Ergänzend sei noch angefügt, das es nicht gut ist, wenn man wegen übler Gedanken gleich verzweifelt. Der Buddha lehrt, dass man sich das Schädliche solcher Gedanken gründlich vor Augen führe und dann zu den besseren, heilsamen Gesinnungen übergehe.

Man weiss nicht, was eher kommt: Der morgige Tag oder das nächste Leben. Aber was man in die Welt gesetzt hat, seien es liebevolle oder übelwollende Gedanken, Worte oder Taten - nachdem sie geschehen sind, sind sie da (Dasein: bhava) und werden wieder herantreten (Zukunft).

In fast allen Religionen wird betont, dass die Harmonie in der Natur, Wetter und Naturkatastrophen abhängig sind von den sich im Lebenswandel offenbarenden sittlichen Kräften der Menschen. Gesundheit und Verderbnis der Natur ist letztlich an die Innehaltung der geistigen Ordnung seitens der Menschen gebunden, an ihren Lebenswandel zwischen Wohlwollen und Rücksichtslosigkeit und Brutalität im zwischenmenschlichen Bereich.