Wenn man epigrammatisch sein wollte, so könnte man behaupten, dass es kein Ichproblem im Buddhismus gibt, mit der Begründung, dass man dann in ihm kein Ich findet, wenn man das Ich als ein konstantes, unveränderliches metaphysisches Wesen auffasst.

(Bhikkhu Silacara)

 

Das würde jedoch nur heißen, eine Sache auf scherzhafte Weise behandeln wollen, die in Wirklichkeit eine sehr ernste ist, denn gerade in der Behandlung dieses Problems soll sich der Buddhismus am meisten von anderen Religionen und philosophischen Systemen unterscheiden, und bevor man nicht eine klare Vorstellung von der Lehre des Buddha gerade über das Ich erlangt hat, ist man kaum berechtigt, zu sagen, dass man seine Lehre überhaupt in irgend einem Punkte richtig verstanden hat.

Beginnen wir also mit der Analyse:

In verschiedenen Formen treten immer wieder zwei Glaubensformen in der Geschichte des menschlichen Denkens in Erscheinung.

Der Ewigkeitsglaube ist der Glaube an eine unvergängliche Substanz oder ein unvergängliches Wesen, entweder vorgestellt als eine Vielzahl individueller Seelen oder Selbste, erschaffen oder nicht erschaffen, als eine monistische Weltseele, als eine Gottheit jeglicher Beschreibung oder als eine Kombination irgendwelcher dieser Anschauungen. Man bezieht sich auf ein ewiges Sein jeglicher angenommener Substanz oder Wesenheit.

Der Vernichtungsglaube behauptet andererseits das zeitlich begrenzte Sein gesonderter Selbste oder Persönlichkeiten, die nach dem Tod völlig vernichtet oder aufgelöst werden. Man bezieht sich auf eine endgültige, absolute Vernichtung gesonderter Wesen, die man sich als vergänglich vorstellt, das heißt, nach dem Ende ihrer Lebenszeit steht ihnen Nichtsein bevor.

Dies sind die Extreme von "Sein oder Nicht-sein".

Mittels solcher begrifflicher Gegensätze wie Sein oder Nichtsein zu denken, hat jedoch einen starken Einfluss auf den Menschen. Der Einfluss ist deshalb so stark, weil diese Denkweise unaufhörlich aus verschiedenen kräftigen Wurzeln genährt wird, die tief im menschlichen Geist verankert sind. Die kräftigste davon ist die praktische und theoretische Annahme eines Ich oder Selbst. Es ist der mächtige Wunsch nach Erhaltung und Fortdauer der Persönlichkeit oder eine verfeinerte Form davon, der den zahlreichen Erscheinungsformen des Ewigkeitsglaubens zugrundeliegt. Aber selbst bei Menschen, die den Ewigkeitsglauben oder die entsprechenden Theorien aufgegeben haben, ist die instinktive Überzeugung von der Einzigartigkeit und der Wichtigkeit ihrer jeweiligen Persönlichkeit noch so stark, dass sie den Tod, das Ende ihrer Persönlichkeit, als völlige Vernichtung oder Nichtsein auffassen. Deshalb ist der Glaube an ein Selbst nicht nur verantwortlich für den Ewigkeitsglauben, sondern auch für die Vernichtungsansicht, zeige sie sich nun in ihrer volkstümlichen, unphilosophischen Form, die den Tod als völliges Ende ansieht, oder in den materialistischen Theorien, welche den gleichen Standpunkt intellektuell zu beweisen suchen.

Diese einseitigen Anschauungen können auch emotionale Ursachen haben, die für die grundlegenden Einstellungen zum Leben bedeutungsvoll sind. Sie mögen aus Stimmungen des Optimismus und des Pessimismus, der Hoffnung und der Verzweifelung entstehen oder aus dem Wunsch, sich in einer metaphysischen Wesenheit oder durch göttlichen Beistand geborgen zu fühlen. Sie mögen auch aus dem Verlangen kommen, in einer materialistisch aufgefassten Welt ohne Hemmungen und Beschränkungen bis zum endgültigen Tod leben zu können. Die theoretischen Begründungen des Ewigkeitsglaubens oder des Vernichtungsglaubens, an die ein Mensch sich hält, können sich, zusammen mit den dazu gehörigen Stimmungen und emotionalen Bedürfnissen, während eines Lebens durchaus ändern.

Im Kapitel "10 Fesseln" können wir lesen, dass die erste Fessel der Wesen die Fessel der Ansicht von Seinsdarstellung ist: Der gewöhnliche Mensch glaubt eines felsenfest, nämlich an "Ich bin in der Welt". Er hat die zweifelsfreie Gewissheit, als persönliches Subjekt den äußeren Objekten gegenüberzustehen. Beides erlebt er als wandelbar, aber die Tatsache, dass Welt und Ich existieren, ist ihm "todsicher". Was einst als In-dividuum (lat. Un-teilbares) galt und was einst als A-tom (gr. Un-teilbares) galt, hat ihm die Naturwissenschaft als Prozesse physischer und psychischer Art enthüllt. Das erschüttert aber nicht im Geringsten den Glauben "Hier bin ich, dort ist die Welt" und "Wenn ich sterbe, bin ich vernichtet, doch die Welt geht weiter". Religiöse Menschen glauben dagegen bei uns, eine den Tod überdauernde ewige Seele zu haben, der dann ewige Seligkeit oder ewige Verdammnis bevorsteht. Und in Indien wird an eine anfanglos existierende Seele (atman) geglaubt, die durch die Existenzen wandert, bis sie einst in Brahma erlöst wird.

Der edle Jünger des Buddha aber hat erkannt, dass das, was wir als unser "Ich" empfinden, jene fünf Komponenten der Existenz sind:

1. die Formen (über die fünf Sinne und Denken) 2. gefühlsmäßig 3. wahrgenommen und daraus resultierend 4. Aktivität im Denken, Reden, Handeln und daraus resultierend eine 5. programmierte Wohlerfahrungssuche, Bewusstsein.

Die sind alle fünf viel dichter und fester zusammengesponnen, ineinander verstrickt und verfilzt als Wollfäden an einem Pullover, aber nicht nur aus zarten Wollfäserchen, sondern aus zahllosen, unzählbare Male wiederholten, teilweise stahlharten Gedankenfasern zusammengedreht  zu den Triebwuchtungen aus Hinneigung, Abneigung und Blendung. Dieser Wahnsinns-Komplex von Kräften und Fähigkeiten, dieser Kettenpanzer, den wir als "Ich" erleben, bleibt zusammen, solange wir ihn nicht auflösen wollen und in geduldiger Arbeit auflösen  - erlösen. Was wir ein "Wesen" nennen, ist vom höchsten, wahnfreien Standpunkt aus ein Komplex von fünf Komponenten, eben den fünf Aneigungen, oder den fünf Zusammenhäufungen (upadana-khandhas). Jede von den fünfen verändert sich ständig. Auch die Art der Veränderung ändert sich ständig, und auch die Art, wie sich die Art der Änderung ständig ändert, ändert sich ständig. Da es eine Saat und Ernte über den Tod hinaus gibt, kommen in der unabsehbaren Dauer des Daseinskreislaufes immer wieder Zeiten, von denen ab an diesem zusammengesponnenen und zusammengestrickten Kontinuum der fünf Zusammenhäufungen, die der Geist "Ich" nennt, keine Faser mehr von dem einst Gesponnenen und Gestrickten übrig ist, keine einzige von den Eigenschaften, Fähigkeiten und Kräften zu finden ist, die es lange Zeit als "charakteristisch" von anderen Wesen unterschieden hatten. Dieser sich ständig wandelnde Komplex von lauter vergänglichen Zusammenhäufungen ist dann an nichts mehr, aber auch an gar nichts mehr als der "selbe" wiederzuerkennen wie vor beispielsweise hundert oder tausend oder hunderttausend Wiedergeburten. Dann kann man auch im deutschen Wortsinn nicht mehr vom Selben - von einem Selbst - sprechen.

Auch eine so weit reichende Rückerinnerung wie die des Buddha an ungezählte frühere Leben setzt kein ewiges "Selbst" voraus. Die Begründung darin liegt an der relativen Kontinuität von jeweils einer Geburt zurück zu den unmittelbar davorliegenden Geburten. Dies ist das Leitseil, an dem sich die Rück-Erinnerung vom jetzigen Leben ab auch in fernste Tiefen der Vergangenheit zurückhangeln kann. Manchmal steigen uns isolierte Wahrnehmungen auf, die in Wirklichkeit - ohne dass wir es wissen - nichts anderes sind als eine Erinnerung aus einer Daseinsform, die so weit zurückliegt, dass heute kein Fäserchen mehr von damals vorhanden ist. Wir erkennen diese aufgestiegene seltsame Wahrnehmung überhaupt nicht als eine Erinnerung an eine "eigene" frühere Daseinsform, sondern sind befremdet über diese "verrückte Vorstellung", oder wenn es bei Nacht war, über den "verschrobenen Traum".

Für den von einem Erwachten über die Existenz Aufgeklärten ist daher Rückerinnerung gerade kein Beleg für ein ewiges Selbst, sondern im Gegenteil: Er sieht nun erst richtig, welch ein Wahnsinn es war, immer wieder wechselnden einzelnen Wellen dieses rieselnden Stromes von widersprüchlichem Unbestand das Etikett "Selbst" aufzukleben.

Der edle Jünger des Buddha hat erkannt, dass - wie auch immer Ich (Persönlichkeit) und Welt (Kosmos) beschaffen sein mögen - alle solche Seinsdarstellungen von Ich und Welt an einem einzigen Faden hängt, am jeweiligen Bewusstsein, von ihm entworfen, wie ein Traum. alles ist nichts anderes als Inhalt des Bewusstseins, ist der Tag-Traum, der sich in Nichts von Nacht-Träumen unterscheidet. Alles "Sein" ist psychisch, geistig, wird unaufhörlich gewandelt. Nirgends ist eine andere Realität als Wirken und Wirkung.

Früher Gewirktes (Physisches: Körper und Sinnesobjekte, Form) tritt an das von Gier, Hass und Verblendung besetzte Bewusstsein (Psyche) heran, was angenehme oder unangenehme Berührung bewirkt. Und diese Psyche, die sich im Körper inkarniert hat, fasst sich als Persönlichkeit auf, reagiert bei Trieberfüllung mit Wohl, bei Nichterfüllung mit Wehe. Diese Gefühle pflegt man einer objektiven Außenwelt als Herkunft zuzuschreiben, hält sie für wahr (Wahrnehmung) und schreibt sie so in den Geist ein. Pausenlos wird dann darum herum gedacht, wie man weiterhin Wohl erlangen und Wehe vermeiden kann. Solches bejahendes Bedenken und Bewerten schafft, bestätigt, gestaltet die Triebe der Psyche nach ihren Objekten. Da aber alle Objekte unbeständig sind, da alles Wohl vergeht, schafft man sich ständig Leiden am Vergänglichen. Und da man an der Vergänglichkeit nichts ändern kann, sie nicht souverän beherrscht, ist man dem Unbestand gnadenlos ausgeliefert. Solange sich ein vergängliches Ich in einer vergänglichen Welt wähnt, ist es auswegloses Leiden im ewigen Dreitakt: Vergänglich, wehe, nicht Ich. Solange das Leiden als persönlich aufgefasst wird, solange man sich mit Vergänglichem (Körper, Seele, Geist) identifiziert, darin wohnt, daran gewöhnt ist, gibt es keinen Ausweg aus dem Leidenskreislauf des alle Tode überdauernden Samsaro.

Wenn aber der Wahntraum von Ich und Welt als Wahn entlarvt wird, verlieren die Triebe ihre Objekte und schwinden haltlos dahin. Diese Erkenntnis befreit geistig von der eisernen Fessel des Glaubens (der Ansicht) an Persönlichkeit ("Ich bin in der Welt") eben der ersten Fessel, die der Anusari (der Nachfolger des Buddha) aufzuheben beginnt und der vollendet Stromeingetretene restlos zerstört hat.

Diese Befreiung gibt ihm zweifelsfreie Sicherheit, dass auch alle weiteren Fesseln, die davon abhängen, mit der Zeit aufgehoben werden können, dass die Lehre des Erwachten die totale Erlösung von allen Leidenschaften, von allem Leiden schaffenden, garantiert und dass er in den Strom der Nachfolger als edler Jünger, als Heilsgänger, eingetreten ist. Unerschütterliche Sicherheit beim Erwachten, bei der Lehre, bei der Jüngerschaft zieht ins Herz ein.

 

Quellen:
Nyanaponika Mahathera: Anatta und Nibbana.
Hellmuth Hecker: Das Glück der Sicherheit in der Lehre des Buddha.