Die Wahrheitsgegenwart (sati) steht im Dienste der ganzen Lehre. Wer sein Leben nach der Wegweisung des Buddha zu führen sich bemüht, der hat bei sich erfahren, dass Gier und Hass die Hauptverhinderer der Fähigkeit zur Wahrheitsgegenwart sind.

  

Diese beiden Drangrichtungen der Tendenzen lösen in Verbindung mit der ununterbrochenen sinnlichen Wahrnehmung die starken Empfindungen, Gefühle, Emotionen aus. Daraus gehen sofort die Motivationen für die aufsteigenden Absichten und Willensrichtungen hervor. So wird fast augenblicklich wiederum im Dienst von Gier und Hass gedacht, geredet und gehandelt - und manchmal mag sich hinterher, zu spät, die sati, die Erinnerung, einstellen: "Du wolltest doch so und so handeln, du solltest doch so und so handeln. Da hat es dich doch wieder überwältigt."

Je mehr Gier und Hass, um so stärker Wohl- und Wehgefühle, die Verfälschung der Wahrnehmung, um so stärker setzt sich der Lustwille durch, um so weniger kann die Wahrheit sprechen, die Weisheit anwesend sein.

Die drei ersten Lehren des Buddha haben zum Inhalt eine graduell fortschreitende Herzensläuterung durch die beiden Hauptübungen Geben und Tugend, um innerhalb der sinnlichen Welt aufzusteigen. Unter den Wesen der sinnlichen Welt sind die Menschen und Tiere in einem Fleischkörper und die Geister und Götter in einem erheblich feinstofflicheren Körper eingeschlossen.

Oberhalb der sinnlichen Welt nennt der Erwachte die Welt der Reinen Form, in der die Wesen, frei von Sinnensucht, Übelwollen und Rücksichtslosigkeit, in geistiger Weise bestehen, unmittelbar ideenhaft. Dieser Bereich ist für uns Sinnensüchtige eine vollkommen andere Seinsweise, die wir nur durch tiefgehende Entwicklungen, Transformierungen, eben durch die allmähliche Überwindung der Sinnensucht, erreichen. Die Sinnensucht ist letztlich die Grundursache für alles Übel im Herzen: für Übelwollen und Rücksichtslosigkeit, wie es in Majjhima Nikaya 13 heißt:

"Von Sinnensucht getrieben, von Sinnensucht bewogen, nur aus eitel Sinnensucht streiten Könige mit Königen, Fürsten mit Fürsten, Priester mit Priestern, Bürger mit Bürgern, streitet die Mutter mit dem Sohne, der Sohn mit der Mutter, der Vater mit dem Sohne, der Sohn mit dem Vater, streitet der Bruder mit dem Bruder, Bruder mit Schwester, Schwester mit Bruder, Freund mit Freund. Also in Zwist geraten, gehen sie mit Fäusten, Steinen, Stöcken und Schwertern aufeinander los..."

Aus Sinnensucht kommt es zu Übelwollen und Rücksichtslosigkeit, aber die Reihenfolge der Überwindung ist eine andere als die Reihenfolge der Bedingtheit. Der Erwachte rät immer und allen zuerst, sich zu der tauglichen, tugendlichen Begegnung mit den Mitwesen zu entwickeln, Ablehnung, Rücksichtslosigkeit aufzugeben und sich dem lebendigen Du gegenüber aufzuschließen, ohne zu messen, ohne der Antipathie zu folgen, wie es bei der Entwicklung der Metta-Meditation bedacht wurde. Die Übung im Berücksichtigen der Bedürfnisse der anderen begegnenden Wesen ist eines der besten Mittel, die sinnliche Bedürftigkeit zu mindern bis zur Auflösung.

Wenn die Metta-Übung nicht recht gelingt, so ist meistens ein verborgenes oder offenbares Begehren nach den sinnlichen Dingen der Welt die Ursache, und es ist erforderlich, zeitweilig und immer wieder zu einer anderen Übung überzugehen, zu der Betrachtung eben dieses sinnlichen Begehrens und seiner Objekte, der Sinnendinge, über die der Erwachte viel Entlarvendes gelehrt hat, um den Menschen von den Sinnendingen abzuziehen und für höheres Wohl empfänglich zu machen.

Der Buddha hat erfahren, dass er früher als gewöhnlicher Mensch ebenfalls verblendet war: er empfand die Befriedigung des sinnlichen Begehrens als eine Wohltat und war darum geneigt, bei der Befriedigung des sinnlichen Begehrens zu bleiben. Selbst aus der Zeit, als er schon Asket war, berichtet er in Majjhima Nikaya 14. Erst als er durch bestimmte Übungen zu geistiger Beglückung bis Verzückung und durch diese zu weltlosen Entrückungen gekommen war, da erfuhr er zu seiner größten Verwunderung und inneren Beglückung, dass ihm ohne das vielfältige sinnliche Begehren unvergleichlich leichter und freier zumute war. Er fühlte sich glücklicher, gesünder und machtvoller als je zuvor. Durch diese Erfahrung sah er, dass der normale, im Begehren steckende Mensch dieses Glück der Begehrensfreiheit gar nicht ahnen kann, solange es ihm nicht gesagt und erklärt wird. Das ist der Grund, warum der Buddha diejenigen, die hören wollen, über diesen Zusammenhang aufklärt.

Wer die sinnlichen Befriedigungen für an sich erfreulich hält und nur unter dem Eindruck steht, dass sie von oben her verboten sind, kann davon nie richtig frei werden.

Diese Übung nimmt einer nur dann auf sich, wenn er begriffen hat, dass das Leben des normalen Menschen ebenso mühselig und schmerzlich wie sinnlos ist: immer wieder Körper anlegen, genießen, Enttäuschung, Tränen, Resignation, sterben, Wiedergeburt als genusssüchtiges Wesen, dass keine oder nur wenig gute Taten angesammelt hat und darum drüben darbt, dem Verlorenen nachtrauern, dann wieder irgendwo Anziehung verspüren, in einen Mutterschoß einsteigen, wieder geboren werden mit neuen Hoffnungen usw. - sinnlos. So lange schon folgt ein Körperwechsel dem anderen, kein Anfang ist zu sehen, keine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung. Der gewöhnlich Mensch kann aus diesem Geborenwerden, Altern und Sterben, aus Kummer und Schmerz nicht hinaus, so wie die Fliege sinnlos an der Fensterscheibe nach einem Ausgang sucht, aber die offene Tür nicht bemerkt. Der Buddha zeigt die offene Tür, aber der unbelehrte Mensch sieht sie ebenso wenig wie die Fliege an der Scheibe sie sieht, weil er immer wieder auf die herankommenden Wahrnehmungen schaut, so wie die Fliege nur dem hellen Fenster zugewandt ist.

In Majjhima Nikaya 75 vergleicht der Erwachte die den Menschen jagende Sinnensucht mit den schwärenden Wunden eines Aussatzkranken. Diese jucken und stechen ihn fast ununterbrochen so rasend, dass er dauernd an ihnen kratzen und reiben muss. Wenn er es gar nicht mehr aushalten kann, dann geht er ans Feuer, dörrt dort die Wunden in der Hitze aus und reisst Fasern von den Rändern der Wunde ab, um das Jucken zu betäuben. Diese Behandlungen sind sehr schmerzlich, und die Wunden werden dadurch größer und schlimmer; aber der von dem Jucken Geplagte empfindet das Kratzen, Dörren und Reißen an den Wunden gegenüber dem unerträglichen Jucken dennoch als Befriedigung: das ist seine Verblendung. So kennt der Kranke lediglich wegen der Aussatzwunden nur zwei entgegengesetzte Arten von schließlich ausschließlich schmerzlichen Gefühlen, und nur deren Verschiedenheit lässt den einen Schmerz als Befriedigung, als "Wohl" erscheinen. solange der Aussätzige krank ist und zwischen Juckschmerz und Kratzen als den einzigen beiden Möglichkeiten hin und her wechselt, ist keine Genesung möglich; vielmehr werden die Wunden größer, eitern stärker, und der Kranke beschleunigt damit den Verfall seines Körpers.

Die Aussatzwunden dieses Gleichnisses stehen für die Sinnensucht. so wie die einzelnen Wunden jucken, so ist jedes Habenwollen ein sehnendes Verlangen nach entsprechender sinnlicher Wahrnehmung. aus diesem Verlangen heraus bemüht sich der Mensch, das ersehnte begehrte Erlebnis herbeizuführen - das gelingt ihm aber in vielen Fällen gar nicht; wo es gelingt, da empfindet seine Sinnensucht Befriedigung, obwohl diese Befriedigung in Wirklichkeit nur eine andere Form von Schmerz und Leiden ist. Aber der von den Tendenzen gejagte normale Mensch hat keine Vorstellung von wirklichem Wohlgefühl. Er ist geblendet von seinen Schmerzen, "sinnesverwirrt".

Befriedigung ist keine Befriedigung, gibt keine Frieden, sondern vermehrt die Unrast; denn nie kann die Befriedigung der Begehrensdränge das Begehren endgültig stillen und nie kann sie von Begehren befreien. Weil der Mensch bei vielen Sinnendingen im Akt der Berührung eine kurze, entspannende Befriedigung der inneren Sucht empfindet, darum bewertet er die Befriedigung so positiv und muss sie immer wieder anstreben. Natürlich gibt es Sinnendinge, die wir zur Lebenserhaltung brauchen, wie Essen, Trinken, Bewegung, Ruhe usw., aber wir müssen nüchtern feststellen, dass wir darüber hinaus noch sehr viele Sinnensüchte und Begehrensdinge haben. Das merken wir dann, wenn sie länger ausbleiben, als wir gewöhnt sind und uns lieb ist.

Es gibt zwar Menschen, die den Sinnendingen mit Maß nachgehen. Diese Mäßigung bedeutet aber wieder eine Anstrengung und Übung, denn sie möchten noch dem Begehrensdrang folgen, jedoch nicht über ein gewisses Maß hinaus. Sie wollen sich vor Maßlosigkeit der Begierden bewahren, bewerten also nicht die Begierden, sondern nur das Übermaß negativ. Die Begierden als solche beurteilen sie positiv, wodurch die betreffende Neigung stärker wird. Durch andere Erwägungen: Die Gedanken an Mäßigkeit, Pflichterfüllung, Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit oder gar religiöser Vorstellung wird sie zwar wieder schwächer - aber so pendelt ein solcher Mensch hin und her.

Wirklich maßvoll ist auf die Dauer nur ein Mensch, der die Begehrungen als solche, nicht nur ihr Übermaß, negativ bewertet, auch wenn er ihnen - im Rahmen der Tugenden - noch nachgehen muss. Wer jedoch die Befriedigung der Begierden im Grunde positiv bewertet, der gerät immer weiter in die Sinnensucht hinein.

Fast jeder kennt Menschen in seiner Umgebung, die den Sinnenlüsten so stark nachgehen, dass sie davon krank werden und ihr Leben verderben. Alles hat nur klein angefangen. Im Augenblick des Genusses wird Wohl empfunden, das wird positiv bewertet. Wenn aber die kurze Zeit des Genusses vorbei ist, dann meldet sich die Sucht um so stärker, das ist ein eiskaltes Gesetz. Alle, die in die Süchtigkeit hineingeraten sind, aus der sie nun fast nicht mehr zurückfinden, sind nur auf dem Wege über die positive Bewertung der Befriedigung der Sinnensüchte hineingeraten.

Je größer beim Menschen die Sucht ist und je längere Zeit sie unbefriedigt bleibt, um so rücksichtsloser muss er aus dem quälenden Mangelgefühl heraus trachten, diese Sucht zu erfüllen. Zu der Zeit kann er weder den Weg zu seiner Befreiung noch die Not der Nächsten auch nur sehen. Der Gegenstand der Befriedigung füllt sein ganzes Blickfeld aus und erscheint ihm blendend, verheißend, verlockend mit unwiderstehlicher Gewalt.

Jeder Mensch hat irgendwo Grenzen, bis zu denen seine Rücksicht reicht. Wird das Verlangen aber zu groß, dann hört seine Rücksicht auf, weil das Verlangen erfüllt werden muss. Und noch eine Erschwerung kommt hinzu: In dem Maße, wie das Verlangen nach Erlebnissen zunimmt, in dem Maße nimmt gerade die Fähigkeit, selber das Begehrte zu erwerben, ab, nehmen gedankliche Übersicht, Arbeitskraft, Ausdauer, Disziplin ab. Je mehr er bedarf, um so weniger hat er Kraft, sich die Dinge selber zu beschaffen. Irgendwann kann die Spannung nicht mehr ausgehalten werden, und wir sprechen dann von unsozialer Haltung und Kriminalität. Diese kommt dadurch zustande, dass die Wünsche größer sind, als mit rechtlichen  Mitteln Erfüllung erlangt werden kann.

Das Urteil des Buddha - aber auch anderer Heilslehrer - über den Suchtcharakter des sinnlichen Begehrens weist auf den labilen, gefährdeten, unstabilen Zustand des normalen menschlichen Seins hin. In allen Kulturen und zu allen Zeiten lebt der größte Teil der Menschheit mit seinem süchtigen Begehren nach Sinnenlust und strebt einerseits seine Befriedigung an in Ehe, Familienleben und in vielen gröberen und feineren Vergnügungen - und strebt andererseits die Bewahrung vor der Maßlosigkeit und Hemmungslosigkeit an mit ihren üblen Folgen an Verbrechen und Auflösung des sozialen Gefüges: Zwischen diesen beiden Polen balancierend, das Leben fristend, die Zeiten durchlaufend und sie mit "geschichtlichen Akten" erfüllen - das ist der Lebenslauf der Völker und Kulturen. Und ihr Ende ist fast immer dadurch bedingt, dass das mittlere Maß zwischen den beiden Enden nicht eingehalten wurde, dass die Süchtigkeit ausuferte, so dass solche Kulturen durch ihre eigenen Schwächung bald von anderen, auf dem Gebiet der Begehrsucht zunächst noch maßvolleren Völkern, überrannt und unterjocht wurden, bis auch die "Siegervölker" und "Herrenvölker" im Genuss maßlos wurden und wieder anderen Eroberern weichen mussten - denn mit der Sinnensüchtigkeit ist auf die Dauer im Laufe der Jahrhunderte keine Sicherheit vereinbar - wer genießt, der vergisst.

Diese Sicht weist über die allgemeine Lebensnorm der Menschen, die ein weltliches Leben führen, hinaus. Und so hat diese Erkenntnis auch in allen Kulturen, wo sie in ihrer ganzen Tiefe gewonnen wurde, dazu geführt, dass solche Menschen, die diesen Zusammenhang bis auf den Grund durchschauten, dazu kamen, in die Einsamkeit zu ziehen und mit den ihnen möglichen und bekannten Mitteln zu versuchen, sich von dem sinnlichen Begehren ganz zu befreien.

Diese Bestrebung und ihr Gelingen wurde im Abendland im Mittelalter lateinisch die "unio" genannt und wurde in Indien "samadhi" genannt. Beides heißt. Zur seligen Einheit zu kommen durch Abwendung von der Welt.

Zum weiteren Studium kann man die Lehrrede Majjhima Nikaya 54 empfehlen, in der der Erwachte sieben Gleichnisse bringt, die die Vergeblichkeit, die Gefahren und den Täuschungscharakter der Sinnensucht zeigen.

 

Quelle: Meditation nach dem Buddha, von Paul Debes.