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Das deutsche Wort "Sorge" ist mehrdeutig. Die Grundbedeutung wird im Brockhaus wie folgt angegeben: "Vorausschauende Bemühung einer auf die Zukunft bezogenen Gegenwartsgestaltung." |
Das kommt in Wortverbindungen wie Vorsorge, Fürsorge, Versorgen, Seelsorge, elterliche Sorge, Sorgfalt zum Ausdruck. Dieser durchaus positiven Bedeutung steht aber eine negative gegenüber, nämlich eine mehr oder weniger konkrete Befürchtung oder seelische Bedrückung, z.B. um den Arbeitsplatz, die finanzielle Lage, die Gesundheit usw. bis hin zu einer gedrückten Stimmung. Diese Form der Sorge ist belastend, und man strebt danach, sie zu überwinden. Auch sie ist auf die Zukunft bezogen, aber jetzt ohne aktives Gestaltungsziel, sondern als lähmende und niederdrückende Schicksalsmacht, die bedrohlich ihre düsteren Schatten vorauswirft. Es ist in erster Linie die Sorge um den eigenen Leib, dem Krankheit, Alter und Tod drohen; es ist die Sorge um die Bedrohung von Besitz, Anerkennung und überhaupt der Existenz unserer Lieben, die ebenfalls von Krankheit, Alter und Tod bedroht sind, die Sorge um Vereinsamung. Darüberhinaus gibt es im religiösen Bereich noch die Sorge um die eigne Seele: Die Besorgnis, auf dem Heilswege nicht voranzukommen, immer wieder dieselben Fehler zu machen, das Ziel aus den Augen zu verlieren, nach dem Tode in ungünstige Situationen zu kommen usw. Sich Sorgen machen heißt hier, sich Vorstellungen über die Gefährdungen machen, die künftig als Schicksal an mich herankommen. Sorge ist: Im Geist bewegte Angst des Herzens. Tief wurzelt die Angst um das Ich und Mein im Herzen, das ständig von der Vergänglichkeit bedroht ist. Aber sie bleibt nicht nur im Herzen, in Gemüt und Seele, sondern sie treibt im Geiste Vorstellungen und Erwägungen hervor, die ihn zermartern. Weil die Sorge so tief im Herzen wurzelt, deshalb ist ihr auch so schwer beizukommen, und deshalb genügen bloß intellektuelle Erwägungen über die Nutzlosigkeit der meisten Sorgen kaum. Es ist bemerkenswert, dass es im Pali kein einziges Wort gibt, das unserem Begriff der Sorge entspricht. Dort werden die beiden Seiten der Sorge, die emotionale und die intellektuelle, mit verschiedenen Worten bezeichnet. Die emotionale Komponente gehört zum Bereich von Furcht und Angst. Die intellektuelle Komponente gehört zum Bereich des Zweifels, der Unsicherheit und Ungewissheit. Vom Buddha wird nun gezeigt, wie durch tiefe Einsicht in die Existenz die Zweifelsform der Sorge aus dem Geist vertrieben werden kann, wie aber die im Herzen wohnende Angst erst auf dem Wege der Läuterung allmählich zu besiegen ist. Die Sorge ist stets Ausdruck des um sich, seinen Leib und seine Aktionen besorgten Ich. Es kennt die Auflösung des Knotens und die Entrinnung aus dem Nichtwissen nicht, weil es sich selber im Wege steht. Die Sorge stellt alles in Frage - nur nicht sich selbst. Je mehr man sieht, dass das Ich die Quelle aller Sorgen ist und je näher man diesem Grunde auf den Grund geht, desto illusionärer werden die Sorgen. Das Ich - das sind aber konkreter und empirischer ausgedrückt, alle unsere Triebe und Leidenschaften, von denen jede Ich-Ich sagt. In Goethes Faust I heißt es: "Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen, dort wirket sie geheime Schmerzen, unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh´; sie deckt sich stets mit neuen Masken zu, sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen, als Feuer, Wasser, Dolch und Gift; du bebst vor allem, was nicht trifft, und was du nie verlierst, das musst du stets beweinen." In einem anderen Gedicht sagt Goethe: "Weichet, Sorgen, von mir! Doch ach! den sterblichen Menschen lässt die Sorge nicht los, eh ihn das Leben verlässt." In der buddhistischen Perspektive endet das Leben allerdings nicht mit dem Tod, sondern geht endlos weiter im Samsaro. Dazu eine buddhistische Parabel: Einem König wird gemeldet, dass von Norden ein gewaltiges Gebirge heranrücke, alles zermalmend. Da flieht er gen Süden. Da wird ihm gemeldet, dass auch von Süden dergleichen heranrückt. Da flieht er nach Westen. Doch auch von dort kommt das Unheil. Da bleibt ihm nur die Flucht nach Osten. Die gleiche Hiobsbotschaft kommt aber auch von dort. Da sagt er: Dann hilft nur Tugend. Die vier Gebirge, die jede Existenz bedrohen, sind: Krankheit, Alter, Tod und Wiedergeburt. Man kann vielleicht ohne Krankheit sein, aber jeder Körper altert. Man sagt, mancher sterbe ja schon vor dem Alter. Der Tod ist jedem gewiss. Manche trösten sich damit, dass man jedenfalls dann ausgesorgt habe. Aber der Tod ist nur der Übergang zu einer neuen Geburt. Das ist Samsaro. Die Sorge merkt die Verfallenheit des Samsaro und dessen Gefahren und ist insofern berechtigt. Man kann insofern kleine (alltägliche) und große (existentielle) Sorgen unterscheiden. So gibt es überflüssige Sorgen. Wer geneigt ist, sich über alles Sorgen zu machen, der führt sich pessimistisch alle Unglücke, Leiden und Schicksalsschläge vor Augen, die menschenmöglich sind. "Er macht sich Sorgen", sagt unsere Sprache sehr richtig. Er macht sich künstlich selber seine Sorgen, die gar nicht alle eintreffen können. "Ein Mensch lebt keine hundert Jahre, doch macht er sich Sorgen für tausend." (chinesisches Sprichwort) Zu den normalen Übeln, die mit der Existenz sowieso mitgegeben sind, macht sich der Mensch noch zusätzlich vielerlei Sorgen über das, was nie kommt, oder über das, was zwar kommt, aber nicht zu ändern ist. Die Überwindung der Sorgen beginnt damit, dass man diese offensichtlich überflüssigen und vordergründigen Sorgen durchschaut und damit auflöst. Dabei ist eine gute Hilfe, nicht über den jeweiligen Tag hinaus zu grübeln. Man hat das Seine getan an Vorsorge für die Zukunft, an Versicherung usw., aber nun lässt man sie auf sich beruhen und vergrämt sich nicht noch die Gegenwart. Denn morgen hat man auch wieder neue Kräfte! Der Sorgengeist aber denkt sich aus, er müsse mit den heutigen geringen Kräften eine Riesenlast an Zukunft tragen. Es gibt aber auch die Möglichkeit einer scheinbaren Überwindung der Sorge, die nur ein Ausweichen vor ihr ist. Hier sind vor allem zwei Formen zu nennen, eine weltliche und eine religiöse. Sorglosigkeit: Das ist der Leichtsinn, der leichte Sinn, welcher die reale Vergänglichkeit und ihre Bedrohungen leicht nimmt. Besonders wenn man einige überflüssige Sorgen durchschaut hat und losgeworden ist, meint man leicht, die Sorge selber los geworden zu sein. Oft aber wurzelt die Sorglosigkeit auch als Neigung im Gemüte genauso wie die Schwermut. Schwermut und Leichtsinn sind Herzensverfassungen, beide falsche. In vielen Liedern wird davon gesungen, die Sorgen zu Hause zu lassen: "Bin ein fahrender Gesell, kenne keine Sorgen, labt mich heut der Felsenquell, tut es der Rheinwein morgen." Aber die eigentliche existentielle Sorge bleibt im Grunde des Bewusstseins: Und wenn ich alt bin? Und nach dem Tode? So erweist sich diese Sorglosigkeit nicht weniger als Illusion wie die übertriebene Sorge. Im Christentum wird gelehrt, dass man die Sorgen mit Gottvertrauen überwinde. Wer das tut, wird gewiss von manchen unnützen Sorgen entlastet, aber immer wieder geht es dem Guten schlecht und dem Schlechten gut; immer wieder erweist sich das Gottvertrauen als höchst unsicher. Der Buddha sagt: "Du selbst bist böse oder rein, kein andrer kann Erlöser sein." und das gilt auch von der Sorge. Trotzdem gilt: Wer sein Ich ganz dem himmlischen Gesetz unterstellt, das der Gott nennt, der reduziert damit die wesentliche Sorgenquelle, das Ich, ganz beträchtlich. Nur, da hat nicht Gott geholfen, sondern der Betreffende hat sich selbst geholfen. Das Ich hat das Ich überwunden, in Demut und Glauben. Wer den Sorgengeist aus seinem Herzen vertreibt - ganz gleich unter welchen Bedingungen - der mindert tatsächlich die Sorgen. Also gilt: Weder das leichtsinnige Verharmlosen der Sorge noch das Ausweichen auf einen Schöpfergott kann die Sorge wirklich überwinden, ganz zu schweigen von der Flucht in den Rausch. Helfen kann nur, wie beim Gleichnis von den vier Gebirgen kurz erwähnt, die Tugend. William James, der große amerikanische Psychologe, sagt: "Religiöser Glaube ist das beste Heilmittel für Sorgen aller Art." Denn nur eine Tugend, die religiös verankert ist und das nächste Leben mit einbezieht, kann auf die Dauer die Sorge überwinden. Die herzerhellende Tugend der Nächstenliebe, Fürsorge und Zuwendung zum Du erhellt das Subjekt der Sorgen, das Ich, lässt das eigene Ich weniger wichtig erscheinen. Außerdem wirkt man dadurch nach außen Entspannung und Frieden, so dass einem weniger Schicksalsschläge begegnen. "An sich selber arbeiten", das heißt Ich und Welt entspannen. Ich und Welt entspannen, das heißt Sorgen den Boden entziehen. Nur dann kommt man zu jener Ruhe, die manche Herrscher dieser Welt ersehnten, indem sie ihre Schlösser "Sorgenfrei" (Sanssouci) nannten. In der Zeit, die man sonst damit verschwendet, dass man Sorgen ausbrütet, kann man viel tun in Gedanken, Worten und Taten, was mir und anderen hilft. Wenn schon Tätigkeit an sich sinnvoll ist, um uns zunächst einmal vom brütenden Sorgen abzulenken, dann ist die Tätigkeit, mit der man anderen Freude macht, noch weit besser: "Wenn du an Melancholie leidest, kannst du in vierzehn Tagen davon geheilt sein, wenn du meiner Vorschrift folgst: Suche von heute an jeden Tag etwas ausfindig zu machen, wodurch du einem anderen Menschen eine Freude bereitest; und wenn du das Richtige gefunden hast, tue es sofort." (Alfred Adler) So nutze ich die Gelegenheit, in der Gegenwart zu wirken, um in der Zukunft weniger Sorgen zu haben. Außerdem kann man die Sorgen noch durch folgende Überlegung mindern: Wenn man nach einem längeren Leben zurückblickt, kann man ungefähr abtasten, was einem an Ernte aus früherer Saat zusteht. Man erfährt ja immer wieder ähnliche Konstellationen und kann daraus eine gewisse Wahrscheinlichkeit aufmachen, in welchen Formen die Vergänglichkeit sich auswirken mag. Und wenn man viele Jahre und Jahrzehnte um Tugend bemüht war, dann hat man auch viele Möglichkeiten von Sorgen aufgelöst, "todsicher" für das nächste Leben, aber sicher auch für den Rest dieses Lebens. Man macht sich hier bewusst, dass man ein karmisches Sparkonto hat, auf das man in Notfällen der Sorge zurückgreifen kann. Das schließt auch noch eine feine Folge mit ein - eine Folge, die jeder, der den Kern der Lehre - anatta - verstanden hat, kennt. Das kann man zunächst verständlich machen durch das Wort eines Dichters. Es ist Hans Carossa, der sagt: Wer seinem eigenen Leben auf den Grund zu sehen beginnt, der wird gelassen seine Arbeit tun. Seinem eigenen Leben auf den Grund sehen - d.h. ja, das eigentliche Wesen und Gesetz dieses rätselvollen Daseins erlösend zu erkennen, durchschauen. Wer durch den Erwachten zum ersten Anblick des Heilsstandes gekommen ist, der hat durch eben diese neue geistige Einsicht für sich selbst das wichtigste Ziel gefunden, mit welchem alle bisherigen zweifelhaften, wechselnden Ziele endgültig abgetan sind. Vorstufen solcher Klärungen erfährt jeder Wahrheitssucher nach seinem Zuschnitt, der im gründlichen Lesen der Reden des Erwachten allmählich zu dem immer rechteren, immer geraderen Verständnis der Heilsweisung des Erwachten hindurchfindet. Dann ist das Tor zur endgültigen Heilsentwicklung geöffnet, und das ist der Beginn eines Wachstums, das jenseits aller früheren Vorstellung ist. Weil es ihm so ergeht, darum ist er ganz und gar "ein anderer" geworden. Und darum sind für diesen alle seine früheren Wege und Ziele und Sinne nun die Wege und "eines anderen", die für den jetzigen nicht mehr gelten, und wo sie ihm noch vor Augen treten, da kann er für diese ihm fremd gewordenen Ziele sein jetzt gefundenes Ziel nicht vernachlässigen. Er ist nun unirritierbar geworden, und darum wird er "gelassen seine Arbeit tun". Quelle: Hellmuth Hecker in Wissen und Wandel 1988, sowie Paul Debes beantwortet Fragen, Band I.
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