Gekürzter Artikel von Paul Debes in WW 2005.

Das Verständnis der buddhistischen Lehre kann nur durch eine seelische Entwicklung, zu welcher der Erwachte die Unterweisung gibt, wachsen und zunehmen.

 

 

Hier wie bei allen Religionen geht es nicht um den sogenannten "akademischen Weg" des zunehmenden Aneignens von theoretischem Wissen, sondern um den Weg eines inneren Betrachtens und Wachsens. Die Heilslehrer vergleichen sich mit einem Säemann und vergleichen den Hörer mit gutem oder schlechtem Erdreich. Ihre Lehre, der Same, muss im Geist und im Herzen des Hörers Wurzel fassen, muss keimen und wachsen, den Menschen verändern. Die Heilslehren wollen nicht informieren, sondern transformieren. Man muss mit der Lehre praktisch umgehen, sie in seinem Tun und Lassen anwenden, d.h. sein Tun und Lassen, sein Denken seine Neigungen, seine Gesinnungen ändern.

Darum benutzt der Erwachte in seinen Gleichnissen nicht das Bild des theoretischen Lehrers, sondern des behandelnden Arztes und vor allem das Bild des Handwerksmeisters und seines Gesellen. In der Beschreibung der ersten weltlosen Entrückung gebraucht er das Bild vom Barbier oder seinem Gesellen, der mit Seife und Wasser einen Schaum bildet, der genau die richtige Feuchtigkeit hat, so dass nichts hinuntertropft. Bei anderen Übungen gibt er das Bild des Drechslers oder des Goldschmieds, und er erwähnt auch immer deren Gesellen. Es geht also um eine praktische Arbeit, die am eigenen Gemüt, am eigenen Herzen geleistet werden muss. Nur damit kommt man zu eigenen persönlichen Erfahrung, wie aufkommende Gedanken, Willensanwandlungen und Gemütsstimmungen zu handhaben, zu verändern und letztlich zu beherrschen sind.

Der Erwachte drückt schon in seiner Einladung zur Nachfolge (Majjhima Nikaya 80) aus, dass man um so mehr Aussicht auf Erfolg und Fortschritt hat, je mehr man fähig ist, über das theoretische Erfassen hinaus die vom Erwachten gelehrten seelischen Vorgänge bei sich selbst zu entdecken und zu beobachten, weil man sie dann auch lenken und beeinflussen kann. Diese Einladung beginnt mit den Worten "etu vinna puriso", was meist mit "willkommen sei mir ein verständiger Mann" übersetzt ist. Das Wort "vinnu" müsste genauer mit "findig" übersetzt werden. Dieses Wort benutzt man heute hauptsächlich für Schlauheit in äußeren Dingen. Aber es bedeutet: Im Geistigen findig sein, die Fähigkeit, wirklich vorhandene, aber verborgene innere Vorgänge und Zusammenhänge bei sich selbst zu entdecken, ihrer gewahr werden, eben zu "finden". Die Grundvoraussetzung hierfür ist nicht Denken, sondern Beobachten.

Nach den ungezählten Fragen und Antworten, die in den Lehrreden von Bürgern und Mönchen gestellt und vom Erwachten und seinen Mönchen beantwortet wurden, kann man folgende vier Arten von Menschen unterscheiden:

1. den Wahrheitsfremdling, 2. den Wahrheitslehrling, 3. den Wahrheitsgesellen und 4. den Wahrheitsmeister.

Der Wahrheitsfremdling kennt nichts von der Lehre des Buddha und auch keine Wahrheit aus anderen Religionen, gleichviel ob er von Natur ein religiöser Mensch ist, also Vertrauen mitgebracht hat, oder ob er für Wahrheitslehren kein Interesse hat. Auch wenn er sich beim Lesen von Lehrreden zu jedem Gedanken, den er liest, eigene Gednaken macht, so kommt er doch unmerklich von der Aussage und dem Sinn der Lehre ab, denn die Lehre sagt etwas ganz anderes als das, was der Mensch, der nur weltliches Gedankengut kennt, von sich aus nur immer denken kann. Ein solcher bleibt ein Wahrheits-Fremdling.

Dazu gehören viele der sogenannten modernen Menschen. Diese haben nur das Körperliche im Blick und können daher über den Körper nicht hinausblicken. Darum halten sie den Untergang des Körpers für ihren Untergang. Weil sie mit weiteren Wegen und Lebensformen nach dem Verlassen des Körpers in keiner Weise rechnen, darum untersuchen sie nicht, welche Charakterart erworben und ausgebildet werden muss, um nach dem Verlassen des Körpers Wohl zu erlangen oder Wehe zu vermeiden. Darum geraten sie auf eine Entwicklungsbahn, die sie in Dunkelheit und Verderbnis nach diesem Leben führt.

Der Wahrheitslehrling gleicht dem Handwerkerlehrling. So wie dieser in der Berufsschule schon viel gehört hat, wie dies und jenes zu machen sei, theoretisch also schon viel gehört hat, so kennt der Wahrheitslehrling die Lehrreden gut. Er weiß, wo dieses und jenes gesagt ist, wo wichtige Themen behandelt werden, und vergleicht auch die Aussagen miteinander. Aber ebenso wie der Handwerkerlehrling im Umgang mit dem eigentlichen Werkstoff noch keine praktische Erfahrung hat (der Barbierlehrling mit dem Seifenschaum, der Drechslerlehrling mit den unterschiedlichen Holzarten usw.) so fehlt auch dem Wahrheitslehrling die praktische Erfahrung. Denn obwohl die meisten Aussagen des Erwachten von Herz, Geist und Gemüt des Menschen und dem daraus hervorgehenden Denken, Reden und Tun handelt und obwohl er, der Wahrheitslehrling, dieses alles bei sich und in sich selber hat, so hat er noch nicht den Blick ausgebildet, diese in den Lehrreden gelesenen Zusammenhänge bei sich selbst zu entdecken und zu finden. Er bleibt beim Lesen der Lehrreden und der unterschiedlichen Kommentare, ohne diese auf sich selbst zu beziehen und anzuwenden. Darum weiß er von vielen in den Lehrreden vorgefundenen Aussagen noch nicht, wie sie zu verstehen sind, und daher kann es auch dazu kommen, dass er Widersprüche zwischen verschiedenen Aussagen zu finden glaubt, die sich durch klare Beobachtung der Sache, von welcher die Rede ist, auflösen und klären lassen.

Der Geselle, den der Erwachte in seinen Gleichnissen immer gleich nach dem Meister nennt, weiß nicht nur, was der Erwachte oder andere erfahrene Mönche über die inneren und äußeren Daseinszusammenhänge gesagt haben, sondern er hat diese auch, soweit er nur konnte, bei sich selbst beobachtet und erfahren, und darum ist seine Kenntnis durch Erfahrung gesichert. Dabei hat er die Erfahrung gemacht, dass die theoretische Kenntnis allein nie genügt, um die seelischen Wirksamkeiten in ihrem Zusammenspiel zu durchschauen. Dazu muss man tatsächlich "ins Innere der Natur" eindringen durch eigene Beobachtung. Man kann diese seelischen Vorgänge in keiner Weise mit Worten so beschreiben, wie sie wirklich vor sich gehen; das kann man nur durch Beobachten bei sich selber entdecken und finden. Dann versteht man auch, warum man zuvor viele Aussagen der Lehrreden falsch aufgefasst hatte oder gar nicht verstehen konnte, und manchmal fast den Mut verlieren mochte, sie überhaupt zu verstehen. Wer aber der Unterweisung des Buddha auch darin folgt, dass er die in den Lehrreden verschriebenen seelischen Vorgänge bei sich selbst beobachtet und diesen Beobachtungen immer tiefer nachgeht, bis er sie in ihrer Wirksamkeit ganz und gar entdeckt, der erfährt dadurch in seinem Erleben Bestätigung um Bestätigung der Aussagen des Erwachten, so dass er nicht nur zu immer tieferer Gewissheit über die Gültigkeit und Richtigkeit dieser Wegweisung kommt, sondern auch schon jene Transformierung seines Wesens vollzieht, durch welche er immer mehr auf die von der Vernichtung des Körpers völlig unbetroffenen seelischen Eigenschaften seines Wesens setzt und damit ein so sicheres Gefühl von der Durchgängigkeit seines Wesens gewinnt, dass "Tod" und "Sterben" zu leeren Vokabeln werden. Einen solchen Menschen kann man als Wahrheitsgesellen bezeichnen.

Der Wahrheitslehrling lebt und webt in den fünf Khandas (Aneignungen, Zusammenhäufungen), aber er kennt sie aus den Lehrreden des Erwachten. Dennoch wird er von der Beobachtung ihres Zusammenwirkens bei sich immer wieder abgelenkt. Gier und Hass, die verschiedenen Tendenzen, Triebe, weltlichen Interessen ziehen ihn immer wieder von der Beobachtung ab, und er findet dann nur mühsam wieder zur rechten Anschauung zurück, zumal ihn auch immer wieder Zweifel über die Richtigkeit der verschiedenen Übersetzungen und Auslegungen der Lehrreden plagen.

Der Wahrheitsgeselle jedoch hat oft schon in klarem, unabgelenktem Anblick, frei von Gier und Hass, frei von Herzenstrübungen, das Spiel der fünf Khandas bei sich beobachtet und damit den Stand des normalen Menschen überstiegen. Er ist Heilsgänger (ariya savako) geworden. Zur Zeit des Erwachten hatte eine große Anzahl von Mönchen und Hausleuten diesen Status erreicht. Sie waren in die Heilsströmung eingetreten.

Die Wahrheitsgesellen, die Heilsgänger der drei Grade: Stromeingetretene, Einmalwiederkehrer und Nichtwiederkehrer, haben in fortschreitendem Maße immer tiefere geistige Wandlung erfahren von fortschreitender Erhellung und abnehmbarer Verletzlichkeit. In dem gleichen Maß hat ihr Verständnis der tieferen und letzten Aussagen des Erwachten und damit ihr unerschütterliches Vertrauen zum Erwachten zugenommen und gleichzeitig Daseinsunsicherheit, Daseinsbangnis, Zweifel abgenommen.

Aber erst beim vierten Grad der Sicherheit, beim Heilgewordenen, beim Wahrheitsmeister, sind alle Triebe, alle Verletzbarkeiten, alle Daseinsverstrickungen vollständig aufgehoben.

Der Heilgewordene hat das Bleibende erreicht, ist aus dem Meer des Leidens ans Ufer, das Gleichnis für das Nibbana, das Stadium der Sicherheit, gelangt.

Zum Schluß noch einmal der Erwachte (Majjhima Nikaya 113):

"Wenn auch einer nicht viel weiß,

aber dem Gesetze gemäß wandelt,

auf dem geraden Weg wandelt,

der Wahrheit nachfolgt,

so ist er darum zu ehren,

so ist er darum zu preisen.