Die erste Vorbedingung für den Weg in die Freiheit.

(Anguttara Nikaya V, 22)

 

 

Der Mensch wird weitgehend in Anspruch genommen von den Anforderungen, welche die Kette der lebenslänglich erlebten Situationen ganz unmittelbar an ihn stellt: Von den Aufgaben der Fürsorge für sich und seine Familie, in Berufs- und Wirtschaftsleben und auch von dem Streben nach Wohlsein, Lust und Freude. Die Aktivität der meisten Menschen erschöpft sich in dem vielseitigen Bemühen, in diesem Leben bis zum Tode von Fall zu Fall so weit wie möglich allem Schmerzlichem und Gefürchtetem zu entgehen und das Gewünschte und Ersehnte zu erlangen.

Viele Menschen aber - weniger gefangen von den vielfältigen Sinneseindrücken - haben eine mehr oder weniger starke Ahnung oder ein Empfinden, dass ihr sichtbares Dasein verborgene Wurzeln habe, aus welchen sie zu diesem Leben aufgetaucht seien wie aus einer vergessenen Vergangenheit, dass ihre Geburt nicht ihr Anfang war, sondern nur der Eintritt in den gegenwärtigen Lebensraum. Und ähnlich empfinden und ahnen sie, dass auch der Tod nicht das Ende ihres Wesens und Lebens sein wird, sondern Übergang sein wird in andere noch unbekannte Räume.

Darum kommen diese Menschen im Laufe ihres Lebens meistens eher oder später an die in ihrem Kulturraum etablierte Religionsform, finden darin teilweise Beantwortung ihres Fragens und bemühen sich, nach den Anweisungen dieser Lehre ihr Leben zu führen. Andere sind mit den Antworten ihrer heimischen Religion noch nicht voll zufrieden und suchen weiter unter den anderen Religionsformen.

Wir Heutigen haben das in diesem dunkel-verschlungenen Samsara selten anzutreffende Glück, an die Wegweisung des Heilslehrers gekommen zu sein, der darum der "Vollendete" genannt wird, weil er für sich selbst die den Wesen notwendige und mögliche Entwicklung nicht nur bis zu den mittleren oder höheren Graden, sondern bis zur Vollendung gebracht hat und den Heilsstand für sich selbst gewonnen hat. Und weil er selbst vollkommen angelangt ist, so ist er auch zum unvergleichlichen Lenker der Heilsuchenden, zum Meister der Geister und Menschen geworden.

In den Reden taucht immer wieder ein großer Dreischritt von unserem normalen Menschentum bis zum vollkommenen Heilsstand auf: Tugend, Vertiefung und Weisheit. Unsere geistige Situation ist allerdings manchmal so, dass nach Phasen einer erfreulichen Entwicklung wieder ganz andere Phasen kommen, in welchen man oft weder vor noch zurück zu wissen glaubt. Zwar ist es nicht so, dass wir keine Ergebnisse unseres Bemühens bei uns verspürten oder sähen, aber man würde sich freuen, wenn man wieder mehr Sicherheit zurückgewänne. Der Weg ist kein einfacher.

Für diese Situation, die uns alle mehr oder weniger betrifft, nennt der Erwachte den einzig möglichen und richtigen "Einstieg" in die Entwicklung zur rechten Begegnungsweise oder besser gesagt diejenige innere Haltung des Gemütes und des Geistes zur erfahrenen Umwelt, zu den Mitmenschen und allen Lebewesen, die allein zur lebendig wachsenden Tugendlichkeit führen kann. Wenn wir die folgenden Ratschläge bedenken und mit unseren Erfahrungen vergleichen, dann werden wir daraus Hilfe und Erleichterung erfahren.

Der Erwachte sagt (A V, 22):

  1. "Dass da ein Mensch, ihr Mönche, der zwischen seinen Mitmenschen achtungslos, ohne Zuwendung und ohne Gemeinsinn dahinlebt, etwa die Fähigkeit gewänne, ein aufmerksames, gutes Betragen (abhisamacarika dhamma) zu entwickeln - das ist nicht möglich.
  2. Dass aber ein Mensch, ohne die Eigenschaft eines aufmerksamen, guten Betragens entwickelt zu haben, etwa die Fähigkeit des konsequenten Einübens (sekha dhamma) zur Reife bringen könne, das ist nicht möglich.
  3. Und dass der Mensch, ohne die Fähigkeit des konsequenten Einübens zur Reife gebracht zu haben, den Abschnitt der tauglichen (tugendlichen) Begegnungsweise (silakkhandha) entwickeln könne, das ist nicht möglich.
  4. Und dass der Mensch, ohne den Abschnitt der tauglichen Begegnungsweise zur Reife gebracht zu haben, den Abschnitt der begegnungsfreien, weltbefreiten Entrückungsfähigkeit (samadhi-kkhandha) zur Reife entwickeln könne, das ist nicht möglich.
  5. Und dass der Mensch, ohne den Abschnitt der seligen, weltbefreiten Entrückung zur Reife gebracht zu haben, den Abschnitt des weisen Klarblicks (pannakkhandha) zur Reife entwickeln könne, das ist nicht möglich."

Die erste Bedingung besteht in einer dreifachen Haltung:

  • Dass man jedem begegnendem Lebewesen Achtung, Beachtung (garava) entgegenbringe als einem Lebewesen, das ja Empfinden hat, Anliegen, Wünsche und Bedürfnisse hat wie wir selbst.
  • Dass man sich jedem Lebewesen, das an uns herantritt, auch echt zuwende (patissa). Das Paliwort bedeutet, dass man ihm zuhöre, seine Anliegen aufnehme und ihm voll antworte als einem Lebewesen, das ja Empfinden hat, Anliegen, Wünsche und Bedürfnisse hat wie wir selbst.
  • Dass man überhaupt jene Haltung entwickle, die hier behelfsweise als "Gemeinsinn" bezeichnet wird. Das Paliwort sabhagavuttika bedeutet, dass man sich als einen Teil des anderen, überhaupt als einen Teil des Ganzen wisse, der nur in Abhängigkeit von den anderen besteht und nur mit den anderen zusammen ein Ganzes bildet.

Oft wird gedacht, wenn man das Wort "Gemeinsinn" liest oder hört, dass man als Buddhist ja von Geselligkeit zurücktreten und Meditation betreiben solle. Aber hier ist keine "Pflege der Geselligkeit" gemeint. Dieses Missverständnis kann jeder durch die Anwendung eines einfachen sicheren Maßstabes bei sich selbst verhindern oder wieder auflösen. Es gilt zu unterscheiden, ob wir uns von uns aus, also aus eigenen Anliegen und Neigungen, an diese oder jene Menschen wenden, an sie denken oder sie aufsuchen, um dort die Gemeinschaft genießen oder etwas an ihr kritisieren oder verbessern wollen, oder ob wir - und dies ist es, wovon der Erwachte immer wieder spricht - begriffen haben, dass alle Verbesserung und Verschönerung des Lebens und der "Welt" nur "auf dem eigenen Grund" ansetzen, nur durch Läuterung des eigenen Herzens geschehen kann. Dann werden wir uns nicht von uns aus aktiv mit anderen auseinandersetzen, sondern werden dort, wo andere mit Anliegen an uns herantreten, uns um diese dreifache, vom Erwachten genannte Haltung bemühen.

Dennoch liegen solche Gedanken nahe, wenn es heißt, dass man sich als einen Teil des anderen, ja, des Ganzen erkennen solle. Daher muss dies richtig gesehen werden. Der Angelpunkt, um den es hier geht, ist das, was in Pali "atta" genannt wird und was wir im Westen als "Ego" bezeichnen. Der Kenner der Lehre weiß, dass da, wo der Eindruck eines "ich bin" besteht, in Wirklichkeit ein solches "Ich" nicht zu finden ist, sondern nur ein mühseliger und schmerzlicher Prozess von wechselndem Wollen und Wahrnehmen vor sich geht. Dieses wirre, schmerzliche Gedränge gilt es zunächst zu erhellen, zu verfeinern (das ist die Entwicklung der tugendlichen Begegnungsweise) und dann zur Ruhe zu bringen. Mit dieser Beruhigung entsteht zunehmend Kraft, Wohl, Helligkeit, Frieden, bis dieser in die vollkommene Freiheit und Erlösung einmündet. Es geht aber darum, wie dieser Prozess zu vollziehen ist.

Die vom Erwachten genannte dreifache Haltung führt vom Ego fort, lässt das Du entdecken als ein Lebewesen, das selbst ein Wollen, Empfinden und Wünschen hat, lässt auf dessen vermutliche Empfindungen und Wünsche achten, sucht diese zu berücksichtigen - und darüber ganz unversehens die eigenen Anliegen vergessen, sein Ich vergessen, sein Selbst, sein Ego vergessen.

Die zweite Haltung bedeutet Zuhörenkönnen, die Anliegen des anderen aufnehmen können, ihm so gut wie möglich antworten - aber nicht antworten mit unseren Vorstellungen und Maßstäben (dem Ego) sondern seine, des Begegnenden Vorstellungen und Anliegen unvoreingenommen aufnehmen und zu verstehen versuchen.

Wir können den Unterschied, ja, Gegensatz erkennen und erspüren, der zwischen der egozentrischen und der egolosen Haltung liegt. die egozentrische ist die, dass vom Ich alles ausgeht, gleichviel was ihm begegnet. Wenn der Betreffende schöpferisch ist, dann gehen die Ideen von ihm aus und werden der Welt mitgeteilt. Wenn er zornig ist, dann wird der Zorn auf die Opfer entladen, und wenn er sich um Tugend bemüht, dann dienen die Begegnenden dazu, um an ihnen Tugend zu üben. Ein solcher ist fast nie Empfänger, offener Empfänger für die Anliegen der anderen, sondern immer Sender.

Wir sind nur dann offen für den anderen, wenn unser Ego nicht als der Akteur dasteht, sondern im Hintergrund bleibt. Nur in dieser Haltung ist uns das begegnende Du nicht mehr ein Gegenstand zum Behandeln, sondern wir kommen dazu, geradezu zu entdecken, dass da ein Herd voller Anliegen ist, voll drängender Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen. Nur wenn wir selbst einmal nichts wollen, nichts senden, dann können wir empfangen, was vom anderen kommt, dann können wir ihn und seine Art entdecken, und das ist die Voraussetzung, um auf ihn eingehen zu können.

Dieses Zuhören, überhaupt empfangen und aufnehmen, was von dem Du kommt - diese vom Erwachten genannte Haltung ist nicht möglich, solange das Ego selbst immer will - und sei es, dass es Tugend will. Wir wissen ja, dass Tugend nicht nur im Tun besteht, sondern auch im Lassen. Wenn der andere tun will, uns etwas senden will, sagen, mitteilen will, dann ist für unser Ego nicht die Zeit des Handelns, sondern des Zurücktretens. Beim Zuhören ist alles eigene Wollen nur im Wege.

Die dritte vom Erwachten genannte Haltung zeigt das, worum es geht, in letzter Tiefe. Wer richtig versteht, dass jedes Erlebnis Rückkehr von unbewältigter Vergangenheit ist, der wird in diesem Wissen ganz aufnahmebereit, wird sanft, ja, wird freudig, dass er hier die Möglichkeit hat, etwas zurückzunehmen, aufzulösen von dem gewaltigen Komplex, der sein ganzes Dasein mit all seinen Leiden ausmacht. Wer die Wahrheit des anatta  begriffen hat: Dass da kein Ego ist, wo eines zu sein scheint, dass vielmehr die Wahrnehmung, eine geistige Erscheinung, es ist, welche wie ein Film an der Leinwand ununterbrochen Szenen eines mit der Umwelt beschäftigten Ich entwirft, und dass gerade diese Wahrnehmung eine gewaltige, durch die Krankheit von Gier und Hass bedingte Blendung und ein Wahn ist - wer diese Wahrheit begriffen hat, der sieht, dass das durch die Wahrnehmung gelieferte, empfindende Ich und die durch die Wahrnehmung gelieferten, empfundenen Lebewesen und Dinge samt den empfundenen Zuneigungen und Abneigungen zusammengehören, ein Ganzes sind, untrennbar sind. Er erkennt nun, wie töricht es war, das durch die Wahrnehmung gelieferte Ich aus dem Ganzen herauszunehmen, es als selbstständig von dem Ganzen unabhängig anzusehen und es weiterhin zum Akteur und Gestalter der Szenerie machen zu wollen.

Wer diese Wahrheit von der Einheit der durch die Wahrnehmung gegebenen Szenen und Empfindungen begriffen hat, der wird nicht mehr einen Teil der Szene - das erscheinende Ich - an dem anderen Teil der Szene - dem begegnenden Du - operieren lassen, vielmehr weiß er, dass diese gesamten Szenen mit Ich und Du und allen Spannungen und Misshelligkeiten zwischen ihnen entworfen und gebildet sind aus etwas ganz anderem: Aus Gier und Hass im tiefen Untergrund des Herzens. Gerade Gier und Hass erscheinen in der Szene nicht mit, sie sind der verborgene Herd dieses Bewegungsgewoges, der verborgene Regisseur der gesamten Szenerie, die wir in ihrer Ganzheit "das Leben" nennen.

Der tiefere Sinn von sabhagavuttika ist: das Ganze für ein Ganzes, Unteilbares zu nehmen. Das geschieht gerade nicht dadurch, dass man mit seinen Vorstellungen, Geschmäcken und Urteilen die des Begegnenden betrachtet und misst, sondern dadurch, dass man jetzt die durch die Erscheinung eines Du gegebene Möglichkeit benutzt, die im Innern aufsteigenden Gier und Hass-Anwandlungen zu durchschauen und aufzulösen, indem man sich in voller Ruhe dem Du widmet, um seine Anliegen aufzunehmen und zu verstehen. Dabei werden Gier und Hass, das Ego, gemindert bis zur Auflösung. Das ist letztlich der Sinn der Haltung "sich als Teil des Ganzen wissen".

Mit der o.g. Reihe hat der Erwachte den Zusammenhang der positiven Heilsentwicklung in seiner Verzahnung genannt, hat aufgezeigt, dass der einzig taugliche Ansatzpunkt für die Entwicklung bis hin zum weisen Klarblick (pannakkhandha) in der Ausbildung der genannten dreifachen Haltung gegenüber allem Begegnenden liegt. Achtungsvoll, mit voller Zuwendung zum Nächsten und sich mit ihm verbunden wissen - das heißt: Die begegnenden Wesen gar nicht mit dem eigenen "Geschmack", mit den eigenen Empfindungen oder Meinungen messen, um sie dann so "tugendhaft" wie möglich zu behandeln - sondern alle eigenen Vorstellungen, Meinungen und Neigungen so gut wie möglich zurückstellen und dagegen das Wollen, Wünschen und Anliegen des betreffenden Wesens so gut wie möglich erkennen und zu erfüllen trachten.

Von einem, der sich so übt, sagt der Erwachte, dass er ein "aufmerksames gutes Betragen" entwickeln könne. Wer sich in dieser dreifachen Zuwendung zu den mit jeder erfahrenen Situation gegenüberstehenden Lebewesen übt, der verliert allmählich auch die unbewussten und unkontrollierten kleinen Spontanreaktionen des normalen Menschen, die bei jedem Wort und jeder Tat des Gegenübers aufkommen, und gewinnt dadurch Übung im Beibehalten dieser verstehenden Zuwendung zu empfindenden Wesen. Durch diese Übung entzieht er sich dem tausendfältigen Emotionsstrudel, den jede Begegnung mit den Lebewesen im Innern auslöst und von dem der aufmerksame Mensch, der alles Begegnende nur mit seinem Geschmack misst, ununterbrochen zwischen Begehren und Abstoßen hin und her geschleudert wird.

Wer sich in diesen Vorgang einfühlt, der versteht, dass man die hier vom Erwachten genannte Haltung des aufmerksamen guten Betragens (abhi-samacarika dhamma, die Vorsilbe "abhi" bedeutet zusätzlich, dass man einen solchen Wandel aus seiner eigenen Überlegung und Einsicht beschlossen habe und nun mit seiner Aufmerksamkeit immer im Auge behält und ihn ganz bewusst pflegt) geradezu als Nadelöhr angesehen werden muss, durch welches die gesamte heilsame Entwicklung eingefädelt wird. Und dieses Nadelöhr wird getroffen und wird recht passiert eben dadurch, dass man seinen Mitmenschen achtungsvoll, mit Zuwendung und mit Gemeinsinn begegnet.

 

(Zitate von Paul Debes in "Wissen und Wandel"  3/4 1980)