Mit dem Begriff "Wollen, Tendenzen, Triebe" ist alles das zusammengefasst, was in uns selbst als Energie, als Kraft fühlbar wird und was aus der Energie hervorgeht als unser vielfältiges Wirken in Gedanken, in Worten und in Taten.

 

Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich als erstes auf den folgenden Punkt hinweisen: Der Buddha äußerte nur selten Kritik an anderen Pilgern, eigentlich nur an Makkhali-Gosalo, einem Fatalisten, den er als Unheilbringer anprangerte, weil Fatalismus jedes Streben lähmt. Ihm hielt er ausdrücklich entgegen, er sei wie alle vergangenen und künftigen vollkommen Erwachten "ein Lehrer des Wirkens, der Tat, der Willenskraft." Wie oft ist dies im Abendland übersehen worden! Dies ist im weitesten Sinn der Wille zur Lehre (dhamma-chando).

Doch für unsere Situation soll es an dieser Stelle um eine andere Erkenntnis gehen. Darum, dass da eine Menge innerer psychischer Dränge und Mechanismen wirksam sind, die fast unbekannt und unerkannt zum jeweiligen Willen führen, dass also eine innere, oft stark wechselnde Dynamik der Projektor allen Wollens ist (chando-raga und chanda-dosa).

Wann kommt Wille auf?

Wenn eine Situation als mangelhaft empfunden oder für mangelhaft gehalten wird. Und gerichtet ist der Wille immer auf die Situation, die als die bessere angesehen wird.

Der Erwachte zeigt unter Inanspruchnahme des Gesetzes der Willensbildung: Du willst das und das dir angenehm Erscheinende haben. Das Erlangen führt für den Augenblick zu einer kurzen Freude, aber darauf wieder in Leiden. Im Leiden kommt der Wille auf, aus dem Leiden herauszukommen, was besagt: Der vorherige Wille hat nicht dauerhaft zum Ziel geführt. Es hat sich nach einer augenblicklichen Befriedigung nun eine viel größere Not entwickelt. Wir entwickeln immer wieder neue Willensbestrebungen, weil wir das Ziel, vollkommen bleibendes Wohl, eben doch nicht erreicht haben.

Es werden philosophische Diskussionen geführt über die Frage, ob der Wille des Menschen frei sei oder nicht. Auf den ersten Blick werden wir diese Frage für uns selbst so beantworten, dass wir sicherlich einen freien Willen haben.

Doch wenn wir uns mit diesem unserem für frei gehaltenen Willen vornehmen, einmal nichts zu wollen, bemerken wir nach einer Weile der Beobachtung: Irgendwie klopft es in uns an, leiser oder lauter, schwächer oder stärker: "Jetzt möchte ich dies, jetzt möchte ich jenes." - "Ich möchte, ich will".

Sehr ausführlich beschreibt Paul Debes diese Übung in seinem Buch: Meisterung der Existenz durch die Lehre des Buddha im Kapitel "Das Experiment":

Man nehme sich vor, zu einer bestimmten Stunde, auf die man sich ganz einstelle, gar nichts zu tun. Man fasse also einmal den Entschluss, zu jener Zeit weder geistig noch seelisch noch körperlich aktiv zu sein, vielmehr sich völlig passiv zu verhalten, keinerlei Kraft einzusetzen und ganz still und ruhig zu sein.

Wir empfehlen, diesen Versuch gründlich und aufmerksam und über eine nicht zu kurze Zeit durchzuführen. Wir empfehlen aber ebenso, den Versuch öfter, möglichst täglich, zu wiederholen. Erst dann kann man jenes eigenartige Phänomen - die Tendenzen - ganz unmittelbar selbst erfahren in einer Weise, wie man es durch keine Beschreibung verständlich machen kann. Was also wird man an sich erfahren ... ?

Man kann sagen, dass da erst ein Drängen, unabhängig von dem, was wir bisher als "freien Willen" bezeichneten, ist. Wir haben uns - wie wir meinen - frei entschlossen, nichts zu wollen, und doch kommt zwangsläufig jenes Anklopfen und Drängen, das will, und dem folgen wir dann.

Wir sehen: Nicht wir wollen, sondern "wir" werden gewollt. Es will!

Dieses Drängen kann man als Fühlbarwerden von Kräften erkennen - alles Drängen ist ja zwangsläufig Kraft - und diese Kräfte bezeichnen wir als Tendenzen. Denn Tendenzen sind gerichtete Kräfte, Kräfte in eben den Richtungen, in die es da drängt. - "Jetzt eine Zigarette!" - das ist die eine Richtung. - "Jetzt aufstehen!" - das ist eine andere Richtung. So stark, wie es da gerade drängt, so stark ist die einzelne Kraft. Auch jenes Denken, das nicht von außen angestoßen wird, das einfach "aus uns heraus" kommt, wenn wir - wie wir es gemeinhin nennen - den Gedanken "freien Lauf" lasssen - auch jenes Denken kommt aus einem solchem Drängen, aus dem Wunsch, etwas Bestimmtes zu bedenken. Da ist wahrhaft "der Wunsch der Vater des Gedankens".

So drängen die Kräfte in uns. Drängen sie stärker, so kann man schlechter widerstehen, drängen sie schwächer, so kann man eher widerstehen. Das Widerstehen ist wiederum bedingt durch andere, entgegengesetzte Kräfte - wir spüren ja eine Unzahl einander entgegengesetzter Kräfte in uns, die uns schwanken lassen in unseren Entscheidungen, die uns hin und her ziehen.

Das Dasein als universale Stätte der Problematik umfasst die beiden Pole Ich und Welt, und hinter den beiden Namen "Ich" und "Welt" sind die beiden Inhalte WOLLEN und WAHRNEHMEN. Damit ist das Dasein umfassend bezeichnet: Wollen und Wahrnehmen.

Und was wollen wir? Die einfachste Antwort, in der alles enthalten ist, lautet: Wir wollen wahrnehmen, denn was wir "Leben" nennen, ist ja nichts anderes, als die Summe der Erlebnisse, des Wahrgenommenen. Leben wollen heißt also - Wahrnehmen wollen. Deshalb fürchtet der Mensch den Tod, weil er wahrnehmen will und im Ende des Lebens das Ende der gewollten Wahrnehmung sieht. Einen anderen Grund der Todesfurcht gibt es nicht.

Wir wollen also wahrnehmen. Aber was wollen wir wahrnehmen? Jeder will doch etwas anderes wahrnehmen. Welche Antwort ist für alle gültig? - Wir stellen fest: Wir wollen das wahrnehmen, was wir wollen, was unserem Drängen, unserem Wollen entspricht. Nehmen wir nun wahr, was wir wollen, was ist dann? - Dann ist Glück. Und nehmen wir nicht wahr, was wir wollen, nehmen wir anderes wahr, als wir wollen, dann ist Unglück. Es gibt kein anderes Glück als - Übereinstimmung zwischen Wollen und Wahrnehmen. Und es gibt im ganzen Dasein kein anderes Unglück als Diskrepanz, Nichtübereinstimmung zwischen Wollen und Wahrnehmen.

Letztlich streben alle Wesen danach, die Übereinstimmung zwischen Wollen und Wahrnehmen zu finden. Und da gibt es zwei Wege: Veränderung des Wahrnehmens oder Veränderung des Wollens. Und wenn wir uns die jahrtausendealten Versuche der Menschheit betrachten, diese Problematik zu lösen, die Kluft zwischen Wollen und Wahrnehmen zu überwinden, dann sehen wir, dass fast immer versucht wurde, die sogenannte Umwelt nach dem Wollen zu formen, das heisst, das Wollen zum absoluten Maßstab zu machen und das Wahrnehmen zu verändern nach dem Wollen. Und so geschah und geschieht es im Politischen, im Wirtschaftlichen und überall, auf allen Gebieten. Es ist immer nur dieses eine: Nach außen hin operieren, nach außen hin gestalten, um eine andere Wahrnehmung zu schaffen. Das ist der eine Weg, die eine Möglichkeit. Und auf diesem Wege, wissen wir, sind die Konflikte immer größer geworden, sind Neid, Feindschaft und Krieg in die Welt gekommen. Auf diesem Wege hat die Menschheit Leiden erlebt.

Aber von jeher sind auch immer vereinzelte Stimmen in der Menschheit laut geworden, die da sagen: Du musst dein Wollen verändern, dein Bedürfen mindern, dann findest du den ersehnten Frieden. - Das ist der andere Weg.

Diese beiden Wegweisungen gehen durch die Menschheit, und bisher blieb nichts anderes übrig, als blind zu wählen zwischen den beiden Wegen. Die Nachfolger des Buddha haben sich entschlossen, das Wesen des Wollens und das Wesen des Wahrnehmens zu untersuchen, um zu erkennen, welcher Weg der richtige ist, oder ob das Problem auf andere Weise gelöst werden muss.

Und kommt man als Hörer der Lehre des Buddha dazu, auf dem direktesten Weg, aus der eigenen Problematik heraus die Wirklichkeit zu begreifen, dann kommt die Frage nach den praktischen Folgerungen auf.

Der Erwachte sagt: "Wo die gehörte Weisheit vorangeht, da zieht sie die Tugend nach sich."

Der nächste Schritt heißt daher: Etwas vom Begehren, Zürnen, vom Zanken lassen, etwas mehr Hinwendung zu den Bedürfnissen des Nächsten, etwas mehr Frieden schaffen, etwas mehr die Tendenzen bremsen. "Mögen die anderen nur für das vor Augen Liegende Sinn haben, mit beiden Händen zugreifen, sich schwer abweisen lassen - wir aber wollen nicht nur für das vor Augen Liegende Sinn haben, nicht mit beiden Händen zugreifen, uns leicht abweisen lassen." Diese Haltung, die der Erwachte als einzig fruchtbar zur Ledigung, zur Befreiung empfiehlt, erwächst uns wie von selber aus den gewonnen Einsichten. Aber es braucht viel Zeit.

Wir werden nämlich bemerken, dass mit der geistigen Einsicht noch nicht die gefühlsmäßige Bindung an den Körper, der Drang nach Aktivität zur Gefühlsbefriedigung aufgelöst sein kann. Eine gute Einsicht kann der Geist in kürzester Zeit als Folge von entsprechender Meditation gewinnen, aber damit ist die schlechtere Tendenz noch nicht gemindert. Diesen Widerspruch zwischen dem neuen Willen, der aus Einsicht gekommen ist und auf eine veränderte Gemütsverfassung gerichtet ist einerseits und der verbliebenen Kraft einer Leidenschaft auf der anderen Seite erfährt jeder Mensche bei sich, der an der Bildung seines Charakters arbeitet.

So erweist sich der Mensch als ein bipolares Wesen, dass das Hellere will, das Sinnliche aber nicht aufgeben möchte.

Als Meditation können wir uns an ein Wort von Ralph Waldo Trine erinnern:

Es ist weiser,

wenn wir Zeit und Kraft

auf solche Dinge verwenden,

die bleibend

und einmal gewonnen,

für immer gewonnen sind,

anstatt auf solche,

die wir doch bald

zurücklassen müssen

und auf keinen Fall

mitnehmen können.

Der Heilige schließlich hat keinerlei Triebwillen mehr - Willensgier ist bei ihm unmöglich. Er hat nur noch einen Willen, den Körper bis zum Tode zu erhalten und je nach seinen Fähigkeiten die Lehre darzulegen. Im übrigen ist er nur noch zum Nirvana geneigt, ohne dass irgendein Wunscheswille dabei mitspielt. Es ist ein selbstgängiges Gefälle.